Ich werde noch ein bisschen integrierter

Nun wohne ich schon über drei Jahre auf meiner dänischen Insel. Und das hat Spuren hinterlassen …

Und jetzt … werde ich noch ein bisschen integrierter:

Ernährung und Gesundheit

Kompott oder Kuchen? Egal, es schmeckt!

Habe fast ohne Hilfestellung eine sahnebedeckte Glasschüssel als Apfelkuchen identifiziert. Das entscheidende Indiz ist das Kompott mit Semmelbröseln, das unter der Sahneschicht ruht. Man füllt den „Kuchen“ auf seinen Teller und isst ihn mit dem Löffel, manche mischen Brombeermarmelade darunter. Oder man bekommt ihn gleich portionsweise im Weinglas serviert.

Wichtig bei solchen Süßspeisen: Habe jetzt auch einen Zahnarzt hier.

War diesen Winter auch mehrmals beim Hausarzt: Hatte mich der  Schnupfenverseuchung meiner Insel angeschlossen und fünf Wochen mit Erkältung und Bronchitis gekämpft. Die ebenfalls trendige Grippe mit Lungenentzündung nehme ich mir für nächstes Jahr vor.

Verkehr

Schee war’s scho … Wintertour nach München

Fühlte mich nach einer vierwöchigen Deutschlandtour ganz befreit, als ich die dänische Grenze passiert. Mit der zugelassenen Höchstgeschwindigkeit von 130 km/h zog mein Toyota Aygo nun wieder in aller Seelenruhe an den anderen Kleinwagen vorbei, ohne dass ihn die Schweinwerfer eines BMWs von hinten bedrängten.

Bin die Kurven meiner Heimathügel so oft gefahren, dass mein Autochen auch bei Nebel unter zwei Metern Sichtweite den Weg nach Hause findet. Augen geschlossen halten und an der Grasnarbe entlangtasten  …

Freundschaft über Generationen

Gemeinsam geht sich’s besser: Wandern am Strand von Ulvshale

Habe neben reichlich Rentnern nun auch mehrere Mittvierziger in meinem Freundeskreis vor Ort.

Habe den Rentnern Dinge über ihre Insel sagen können, die sie noch nicht wussten. (Ein- oder zweimal. Die anderen fünftausend Mal, die wir uns unterhalten haben, war es umgekehrt.)

Bekomme auch auf deutschen Webseiten raffinierte dänische Werbung eingeblendet. Oft mit dem Vorschlag, eine ältere Frau mit erstaunlicher Oberweite zu treffen, die ganz  in meiner Nähe wohnt. Oder mit dem Angebot, 7000 Dollar am Tag zu verdienen, so wie der hilfsbereite Millionär im Nachbardorf, dessen amerikanischen Luxusschlitten ich bis heute vergebens zwischen den Fachwerkhäuschen suche.

Arbeit

Auch wenn ich zu viel arbeite … das Leben hier fühlt sich nach Urlaub an.

Habe die Suche nach der Dollarmillion aufgegeben und schon für sieben Kunden in Dänemark gearbeitet: zwei Verlage, ein Museum, ein Theater, eine Nähschule, eine Pension und einen Vergnügungspark. Recht viele, wenn man bedenkt, dass ich hier nur Urlaub machen wollte 😉

Habe ein telefonisches Bewerbungsgespräch auf Dänisch bestanden: Der achte Kunde wird ein Marktforschungsunternehmen.

Politik und Gesellschaft

Vordingborg, 1353 Geburtsort der Königin Margarethe I., ab 2017 Sitz einer von mir mitgewählten Gemeindevertretung

Darf im November zum ersten Mal bei dänischen Kommunalwahlen mein Kreuzchen setzen. Habe also angefangen, das dänische Parteiensystem zu studieren.  Weiß  schon Folgendes: Venstre, wörtlich „die Linke“, ist die rechtslastige liberale Partei.  „Radikale Venstre“ sind weder links noch radikal.

Venstre wird auf dem Stimmzettel mit V markiert, Radikale Venstre mit B. Die Sozialdemokraten mit A, die „Enhedsliste“ mit Ø, „Liberal Alliance“ mit I.

Bei der letzten Kommunalwahl zogen zehn Parteien in den Gemeinderat ein. Weiß nicht, ob ich bis November mit dem Studieren fertig bin.

Update, Januar 2018: Ich werde weiter integriert!

Zeit zum Ernten, Zeit zum Erden

Heute beginnt der Herbst. Bucheckern und braune Blätter knirschen unter meinen Füßen. Die Nacht hat den Tag eingeholt, und ich lege zum ersten Mal in meinem Leben Rote Bete ein.

In meiner Küche türmen sich Äpfel aus unserem Garten. Manchmal finde ich eine Birne im Gras, die noch keinen Bewohner angelockt hat. Und neulich abends kullerten vor meinem Fenster Mirabellen die Straße hinab. Ich ging hinaus auf der Suche nach der Quelle. Im Licht des dunkelgelben Vollmonds fand ich den Mirabellenbaum, direkt hinterm Haus; er war dabei, das Auto meiner Vermieter mit goldenen Kugeln zu umstreuen. Nun esse ich frische Mirabellen zum Müsli und Mirabellenkuchen am Nachmittag. Wie schön, wenn einem die Früchte in den Schoß fallen, sogar ohne Gartenarbeit!

Seit ein paar Wochen stehen hier an den Landstraßen auch viele kleine Buden, in denen Gartenbesitzer ihre Ernte für wenig Geld zum Mitnehmen anbieten. Im Nachbardorf habe ich mich neulich mit der Roten Bete eingedeckt, dazu Lauch, Tomaten und Zucchini, alles besser und billiger als im Supermarkt. Auf der anderen Straßenseite gibt es Eier und Kartoffeln, und die Kinder meiner Nachbarn verkaufen Apfelmost, seit ihr Kirschbaum nichts mehr hergibt. Eine größere Auswahl an Gemüse und Fleisch bieten die Hofläden, die über die Insel verstreut liegen, und neulich war an der Kirche Erntemarkt, wo ich mich mit Marmelade und Sirup für die nächsten Monate versorgt habe.

Mir ist gerade viel mehr nach Ernten und Einmachen als nach Schreiben, Rechnen und anderer Kopfarbeit. Vielleicht ist das wieder eine der vielen Vermeidungsstrategien, die sich mein Unterbewusstsein ausdenkt, um mein finanzielles Vorankommen und andere messbare Erfolge zu verhindern. Vielleicht brauche ich einfach diese geruhsame Tätigkeit nach der Arbeit in der Touristensaison. Oder es ist das Landleben, das mich nach drei Jahren endlich im Griff hat: Ich spiele doch tatsächlich mit dem Gedanken, den Garten nächstes Jahr systematischer zu nutzen, vielleicht mal ein Beet anzulegen, den Stachelbeerbusch zu retten … oder wenigstens am Fensterbrett Kräuter zu ziehen, wenn für mehr die Ausdauer nicht reicht.

Ein jegliches hat seine Zeit, sagte schon der Prediger Salomo. Pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit.

Bilanz ziehen hat seine Zeit, hätte er vielleicht in heutiger Management-Sprache geschrieben.

Ich glaube, ich brauche diese Phase des Sammelns, des Verarbeitens, um auch mein Leben zu betrachten und was ich damit machen will; um meine Gedanken zu ordnen, mich zu erden, einen Vorrat anzulegen an guten Dingen, mit denen ich weiterarbeiten will. Ob das nun Jobs sind, die mich ernähren, oder Menschen, die mich erfreuen; Stoffe, die ich vernähe, oder Ideen, aus denen ich Geschichten entwickle. Vielleicht kann man in der Küche ganz nebenbei Romanfiguren einlegen, Handlungsstränge vermischen und aufgehen lassen, Stilelemente kleinhacken und drüberstreuen. Ich glaube nämlich, es gärt in mir 🙂

Sobald der Garten leergeerntet ist, sobald in meine Küchenschränke nichts Neues mehr passt, setze ich mich wieder an den Schreibtisch. Dann sind die Abende lang, der Nebel quillt über den Feldern, ich öffne meine Vorratsbehälter und schreibe los.

Einen schönen Herbst und eine gute Ernte euch allen!

Ich werde immer integrierter

Vor gut einem Jahr stellte ich fest, dass ich allmählich in Dänemark angekommen bin – erkennbar u. a. an meinen Heringsvorräten, meinem Kaffeekonsum und meinem fließenden IKEA-Dänisch. Inzwischen hat sich die Lage zugespitzt.

Dänemark Lakritzbacon

Lakritz-Bacon im dänischen Supermarkt

Essenskultur

Finde es ganz normal, dass in der Butter Salz ist und in allem anderen Lakritz.

Kaufe koldskål med kammerjunkere, sobald die Temperaturen im Plusbereich liegen. Eine leckere kalte Buttermilchsuppe für den Sommer!

Dänemark Nyord Flohmarktkatze

Wieder eine, die nur fotografiert und nix kauft. Nåå.

Sprache

Sage ständig Nååååå. Werde das auch im Deutschen einführen. Sprecht mir nach: Ein sanft angesetztes N, danach ein tiefes, kurz abfallendes, dann vorsichtig ansteigendes, bedrohlich knirschendes und doch immer butterweiches offenes O. So wie das O in „Groll“, nur lang, damit man alle Bedeutungsnuancen auskosten kann:

„Du isst diesen langweiligen Bacon? Willst du nicht noch mal drüber nachdenken? Der Bacon mit Lakritz ist viel besser.“
Nåååååååååå?, extralang, bohrender Nachhall.
„Hm. Dann ist dir wohl nicht zu helfen.“
Nåå!, leicht und knapp, wie ein innerliches Fallenlassen.
„Echt jetzt? Ihr lebt ohne dieses Wort? Wie geht das?“
Nå?!, extrakurz, steil hochschwingend, dabei Augen aufreißen.

Bemerke immer mehr, wie kompliziert wir Deutschen denken und reden.

Deutsch: Sehr geehrte Damen und Herren …
Dänisch: Gar keine Anrede, wenn man den Angeredeten nicht kennt.
Deutsch: Ich lade dich auf ein Stück Kuchen ein.
Dänisch: Jeg giver kage.
Deutsch: Komisch, da war doch was. Hat sie nicht erst vor einem Jahr über das gleiche Thema geschrieben?
Dänisch: Nåååååååååå?

Teilhabe am gesellschaftlichen Leben

Dänemark Münzen

Leider reichen ein paar löchrige Münzen dem Steuerwesen nicht mehr.

Habe zum ersten Mal in Dänemark Einkommensteuer bezahlt. Sehe auch schon kommen, dass das nicht das letzte Mal war.

Beginne das dänische Mehrwertsteuergedöns zu kapieren. Das sich nur in Details vom deutschen Mehrwertsteuergedöns unterscheidet. Die dich Jahre deines Lebens kosten.

Bin jetzt Vorstandsmitglied im Glasfaserverein unseres Dörfchens und schreibe komplizierte Protokolle in fragwürdigem Dänisch.

Neben Technik und Dänisch ist Sport meine große Stärke: Bin zu den hiesigen Olympischen Spielen eingeladen worden.

Na gut, diese Olympischen Spiele sind das Sommerfest der Nachbarn, mit Axtweitwurf und Scheunenstaffellauf für die Kinder. Werde mich abends zum Grillen dazugesellen.

Ortskenntnis

Habe fast jedem Baum im Kliffwald die Hand geschüttelt. Mache mich nun daran, alle Inselstrände abzuschreiten.

5000 Jahre dänische Geschichte. An der Spitze ich: Kong Asgers Høj auf Møn

5000 Jahre dänische Geschichte. An der Spitze ich: Kong Asgers Høj auf Møn

Sowas zahlt sich aus! Habe den Auftrag bekommen, Infotexte für einen neuen Wanderweg rund um Møn zu übersetzen. Unter anderem mit der Begründung, man wolle eine „Einheimische“ für diese Arbeit.

Treffe beim Einkaufen immer irgendwen, den ich kenne.

Kriege das Geschehen in Deutschland kaum noch mit. Das in Dänemark allerdings auch nicht. Schwebe glücklich im Nirwana.

Achtungsbezeugungen

Würdige jeden Stein und jeden Grasbuckel, jeden Zaunkönig, jedes Leberblümchen. Die ganz alltägliche Natur: in Liedern besungen, beim Morgenkaffee besprochen, auf Facebook gepostet.

Immer hereinspaziert: dänische Flagge im Kalvehave Labyrintpark auf Südseeland

Immer hereinspaziert: dänische Flagge im Kalvehave Labyrintpark

Bin ganz überrascht, wenn deutsche Kirchenlieder nur acht Strophen haben und man davon höchstens vier singt. In Dänemark zieht man vierzehn Strophen durch. Jeder Vogel und jedes Blümchen hat seine eigene.

Beginne die Arbeitstage in meinem Sommerjob damit, die dänische Flagge zu hissen. Wichtig: Bis an die Spitze, nicht so halbmastmäßig wie bei meinem ersten Versuch. Sonst denken meine Arbeitgeber vom Labyrinthpark in Kalvehave, jemand sei in ihrem Irrgarten verendet.

 

Update, März 2017: Ich werde noch ein bisschen integrierter 🙂
Update, Januar 2018: Ich werde weiter integriert!

Ich werde integriert

Die Anzeichen mehren sich, dass ich allmählich in Dänemark angekommen bin.

Essenskultur

Sieben Sorten Hering. In der Mitte Pommes: Damals hatte ich noch keine Ahnung von Esskultur

Sieben Sorten Hering. In der Mitte Pommes: Damals hatte ich noch keine Ahnung von Esskultur

Habe begriffen, dass Hering zu jedem Mittagessen gehört.
Habe stets mehrere Sorten Hering im Kühlschrank.
Habe begriffen, dass man den Hering nicht auf Weißbrot, sondern auf Schwarzbrot isst, das Weißbrot ist für den Lachs da. (Was ich heimlich zu Hause mache, steht auf einem anderen Blatt.)
Ärgere mich über deutsche Supermärkte ohne meterlange Lakritz-Selbstmischbatterie.
Frage mich, wie ich 40 Jahre ohne Lakritztee ausgekommen bin.
Überlege, Lakritzpulver anzuschaffen.
Trinke morgens, mittags, nachmittags und abends Kaffee.

Natur, Landschaft, Wetter

Gipfelsieg auf Møn, 135 Meter über dem Meeresspiegel

Gipfelsieg auf Møn, 137 Meter über dem Meeresspiegel

Finde, dass der hiesige Aussichtshügel den Namen „Königsberg“ verdient.
Finde 25 Grad im Sommer unglaublich heiß.
Bin ganz aus dem Häuschen, wenn es im Winter schneit.
Halte das Festland für weit ab vom Schuss und die dänischen Inseln für den Nabel der Welt.
Kann gar nicht glauben, dass man in Deutschland vier Stunden Auto fahren kann und bloß von Frankfurt nach München kommt. In Dänemark ist man nach vier Stunden Autofahrt an der deutschen Grenze oder der Brücke nach Schweden. Oder ins Meer gefallen. Oder im Kreis gefahren.

Teilhabe am gesellschaftlichen Leben

Bekomme endlich auch dänische Spam-Mails.
Bin gleich nach meiner behördlichen Anmeldung vom nächstgelegenen Krankenhaus eingeladen worden, mich auf Gebärmutterhalskrebs untersuchen zu lassen.
Bin außerdem sofort von der Steuerbehörde nach meiner Kontonummer gefragt worden.
Singe im Chor Liebeserklärungen an den dänischen Sommer samt sanften Wiesen, flatternden Flaggen und blauäugigen Mädchen.
Finde, dass Chorproben ohne Kaffee und Kuchen gar nicht gehen, genauso wenig wie Gottesdienste, Vorträge, Schlussverkäufe, Jahreshauptversammlungen und Autofahrten ab 20 km. Sollten zu derlei Veranstaltungen Protokolle geschrieben werden, ist vor oder spätestens direkt nach Aufzählung der Anwesenden zu notieren, mit was besagte Anwesende verpflegt wurden.

Sprache

Brauchte ich unbedingt für meine Schreibwerkstatt. Vor allem wegen der schönen Tasten unten rechts.

Brauchte ich unbedingt für meine Schreibwerkstatt. Vor allem wegen der schönen Tasten unten rechts.

Spreche inzwischen nicht nur Dänisch mit deutschen Einschlägen, sondern auch Deutsch mit dänischen Einschlägen.
Kann mit etwas Glück Festlanddänen und Inseldänen an der Aussprache unterscheiden.
Kann IKEA auf Dänisch navigieren (Billy = Billy, Mitnahmebereich = Ta‘ Selv Lager usw.).
Kann auf Dänisch fluchen. (For helvede.)
Weiß fast ohne nachzudenken, dass halvtreds = 50, tres = 60, halfjerds = 70, firs = 80 und halvfems = 90. (For satan.)
Verwechsle beim Schreiben am Computer oft ö und ä, weil bei dänischer Tastaturbelegung æ und ø genau andersherum liegen. (For pokker.)

Festlichkeiten

Kann die erste Strophe eines beliebten dänischen Geburtstagsliedes auswendig singen und bei den übrigen dreien so tun.
Habe zu Johanni am Lagerfeuer gestanden und eine Rede gehalten.
OK, eher abgelesen.
Aber selbst verfasst und auf Dänisch.
Habe dem Hofwichtel im Advent Süßigkeiten hingestellt.
Habe eine dänische Weihnachtsfeier samt Hering, Lachs, Milchreis, ca. 25 anderen Gerichten, Bier, Schnäpsen und Gesang überstanden. (Und es war gut.)
Bin mit einer dänischen Familie samt Kind und Hund um den Weihnachtsbaum getanzt.

Update, ein Jahr später: Ich werde immer integrierter.
Update, wieder ein Jahr später: Ich werde noch ein bisschen integrierter.
Update, nochmal fast ein Jahr später: Ich werde weiter integriert.