Wenn Erzähler plötzlich zaubern: National Novel Writing Month 2017

Diesen November war wieder „National Novel Writing Month“. 30 Tage lang habe ich in die Tasten gehauen, genau wie viele Tausend Autoren in der ganzen Welt. Gut 50.000 Wörter ist mein Roman jetzt lang – rund 180 Buchseiten.

Im 19. Jahr seines Bestehens rechnete das „NaNo“-Team mit 400.000 Teilnehmern: Auszug aus der Pressemitteilung vom September 2017

Die Aktion findet jedes Jahr im November statt, für mich ist es die dritte Teilnahme. Gleich beim ersten Mal erreichte ich das Ziel ebenfalls, mit einer früheren Version des gleichen Romans. Doch ich war die ganze Zeit gestresst und hinterher mit dem Text so unzufrieden, dass ich ihn lange nicht mehr anrührte (hier mein Bericht zum NaNo 2015). Letztes Jahr schrieb ich bewusst langsam an einem Kinderbuch und schaffte daher „nur“ 33.000 Wörter; sie klingen zwar schöner, liegen aber ebenfalls in der Schublade (hier meine Überlegungen zum NaNo 2016).

Dieses Jahr stand der NaNo unter dem Motto „Superpowered Noveling“  – und tatsächlich fühlte ich mich das erste Mal so, als hätte ich die Sache um Längen besser im Griff:

Ich „gewann“ den NaNo schon gestern, also mit einem Tag Vorsprung, trotz einer recht „unproduktiven“ Reisewoche in der Mitte. Heute habe ich auf gut 52.000 Wörter erhöht 🙂

Ich bin diesmal nicht ausgepowert, sondern zuversichtlich, dass ich das Schreiben auch in den Dezember und, wenn nötig, in den Januar hinein fortführen kann, jeden Tag rund 2000 Wörter, bis ich die Geschichte zu Ende gebracht habe. Und dann geht es mit neuer Energie ans Überarbeiten!

Ich bin mit dem Geschriebenen wirklich glücklich. Nicht weil es perfekt wäre, das ist es nicht. Aber: Ich weiß endlich, was ich tue. Meine Figuren machen mit. Die Handlungsstränge laufen organisch ineinander. Und die Roman-Ereignisse spitzen sich zu.

„Superpowered Noveling“ eben! Wer wie ich jahrelang an seinem Buchprojekt herumgekrebst hat und nie wusste, woran es kränkelt, kann diese Erleichterung vielleicht nachvollziehen.

Motivierende Medaillen: Beim National Novel Writing Month gibt es auch zwischendurch viel zu gewinnen.

Woher kamen diese „Creative Superpowers“ so plötzlich? Für mich war es die günstige Kombination aus drei Faktoren:

1. Ich folgte einer Struktur, die funktioniert.

  • Drei Akte: Exposition, Eskalation, Resolution. Darin verteilt  Meilensteine wie Plotpoints und Pinchpoints, gewürzt mit dramatischen Fragen, Krisen und Höhepunkten.
  • Drei Hauptfiguren, aus deren Perspektive ich schreibe, darunter eine Haupt-Hauptfigur, die rund die Hälfte der Szenen bekommt.

Diese Struktur verdanke ich diversen Schreibratgebern, vor allem zwei Werken von Stephan Waldscheidt: Schreibcamp: Die 28-Tage-Fitness für Ihren Roman und Plot & Struktur: Dramaturgie, Szenen, dichteres Erzählen. (Klingt wie Werbung, soll es auch gerne sein; aber ich habe die Bücher selbst gekauft und meine Empfehlung mit niemandem abgesprochen 🙂 ).

Aus dieser Struktur leitete ich meine Szenen ab, und auf die konzentrierte ich mich dann Schritt für Schritt, Tag für Tag, meist vormittags zwei bis drei Stunden lang.
Nach etwa zwei Wochen musste ich etwas mehr Zeit investieren, um den 2. Akt feinzuplotten, hier kam das erste Mal sowas wie Stress und Unsicherheit auf, aber es war ein super Gefühl, als das auch stand. Der 3. Akt ist mir sowieso ziemlich klar – auf dieses Ende zielt das Buch schon immer ab. Darauf freue ich mich besonders, aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg!

2. Ich achtete darauf, dass es mir gutging.

So ein Roman ist ein Marathon, kein Sprint. Zu meinem Glück (oder Pech) hatte ich diesen Monat wenig bezahlte Arbeit. So konnte ich das Schreiben als Arbeit ansehen, hatte danach frei und dachte nicht mehr an mein Buch (außer an den unglücklichen Tagen, wo ich noch nachplotten musste). Also hieß es auftanken! Ich kochte mir anständiges Essen, nahm mir Zeit für Spaziergänge und Treffen mit Freunden. In der Mitte des Monats machte ich sogar eine Kurzreise nach Hamburg. Es war schön, aber das Schreiben fehlte mir sofort! So kam es, dass ich immer wieder neu Energie zum Schreiben hatte, die innere Kerze nie abbrannte, aber ich trotzdem laufend wusste, woran ich gerade war. Es floss einfach. Superpowers 🙂

3. Ich glaubte weiter an den Zauber des Erzählens.

Im Lauf dieses Jahres habe ich mir vergegenwärtigt, was ich eigentlich mit diesem Buch aussagen will. Wie die Geschichte von dem Scherbenhaufen, die ich letzten Monat erzählt habe. Wie die ganze Geschichte, warum ich nach Møn kam, um zu schreiben. Und ich dachte an die Vision, die ich bei einem Waldspaziergang Anfang dieses Jahres hatte. Ich war mit der inneren Frage aufgebrochen: Wie soll ich dieses Jahr gestalten, damit es gelingt? Drei Antworten bekam ich: 1. Folge den vorgegebenen Strukturen. 2. Achte darauf, dass es dir gutgeht. 3. Glaube weiter an den Zauber.

Das habe ich getan, und es hat geklappt 🙂

Wie geht es euch mit euren Schreibprojekten oder anderen großen Vorhaben? Was ist euer Erfolgsrezept?

Liebe Grüße von der Insel, Carmen Wedeland

Was Bücherschreiber vom Brexit lernen können

Ich bin eine Träumerin. Jahrelang verfolgte ich mein Romanprojekt und nicht das Weltgeschehen. Dabei könnte gerade das Weltgeschehen jedes Romanprojekt weiterbringen. Bestseller dank Brexit – so geht’s:

Brexit Bestseller 05Die klare Botschaft bringt’s
„Jede Woche 350 Millionen Pfund mehr für das britische Gesundheitswesen!“ Mit solchen plakativen Versprechen kann man öde EU-Vorschriften, -Verflechtungen und ihre Folgen locker übergehen und dem Publikum helfen, sich schnell eine Meinung zu bilden. Wir alle brauchen  Orientierung in dieser faktenüberfrachteten Welt!

Komplikation für Politiker: Einzelne Nervensägen werden hinterher nachbohren, wie diese Versprechen nun umzusetzen seien. Aber als Buchautor? Nur los! „Wenn Mathilda ihren Greg kriegt, wird ihr Leben endlich gut!“ Ein paar Kapitel Spannung, dann: Sie kriegt ihn und alles wird gut. Das Buch ist zu Ende; spätere Details wie Ehekrisen, Kindergeschrei und Rentnerelend kümmern niemanden. Die Leser(innen) sind happy und kaufen dein nächstes Buch.

Brexit Bestseller 02Polarisieren mit Personen
Warum ist David Cameron gescheitert? Wie tickt Nigel Farage und was wird er erreichen? Wie wirkt sich der Brexit auf Leute aus, an denen mir liegt – meine englische Freundin, deren Urlaub gerade viel teurer geworden ist; meine deutsche Klassenkameradin, die seit Jahrzehnten in London arbeitet;  mich selbst und andere Nomaden, wenn in weiteren Ländern die Anti-Stimmung steigt? Ich brenne darauf, es zu erfahren!

Bis dahin schreibe ich weiter. Baue packende Protagonisten und aufregende Antagonisten auf, bringe sie in Schwierigkeiten, zwinge sie, ihr Leben zu hinterfragen. Damit die Leser mit (und vor) ihnen zittern, bis sie wissen, wie die Geschichte ausgeht.

Brexit Bestseller 04Initialzündung statt Infodump
Beitrittsverhandlungen der EU … Vorschriften und Verflechtungen … gähn. Das war bisher der Punkt in den Nachrichten, wo jeder Fernsehzuschauer zum Fußball überwechselte. Heute dagegen: Hilfe! Großbritannien tritt aus! Wie lauten die Vorschriften für so einen Fall? Wie eng sind wir überhaupt mit denen verflochten? Wird Schottland sich nun doch noch lossagen und der EU wieder beitreten? Superspannend, wollen wir wissen!

Was lernen Bücherschreiber vom Brexit? Langweile den Leser nicht mit Hintergründen. Dynastien, Gesetze und Wirtschaft deiner Romanwelt interessieren erstmal keinen. Beginne mit einem Knaller – der König wird ermordet, eine Mannschaft meutert, die Heldin entdeckt, dass sie adoptiert ist. Der Leser ist alarmiert und legt dein Buch nicht mehr aus der Hand. In der folgenden Handlung kannst du die Hintergründe einbauen, nicht als statische Beschreibung der Vergangenheit, sondern als heiß machende Hinweise auf künftige Entwicklungen.

Beflügelt der Brexit auch eure Fantasie?

Ideen-Invasion

In den letzten Wochen habe ich zwei seltsame Storys geschrieben. Beide mit insektenartigen Aliens im Mittelpunkt. Die volle Montur mit Mundwerkzeugen, Fassettenaugen, Fangarmen und zu vielen Beinen. Beide Geschichten waren für Ausschreibungen. Die eine hatte das Thema „Mütter“, die andere „Phantastische Sportler“.

Insektenartige Aliens, bei den Vorgaben? Ich weiß auch nicht, wo diese Ideen herkommen.

Ich habe noch mehr solche Kurzgeschichten in der Pipeline. Ein Dutzend wimmelt nur so von Schaben, Spinnen und Schmetterlingen. Eine Handvoll beherbergt gruselige Gewächse. Und dann gibt es noch abseitige spirituelle Themen, Klamauk und Spielereien.

Woher kommen die Ideen?

Bei manchen habe ich wirklich keine Ahnung. Ich schwör’s, das Zeug stammt nicht von mir. Es ist, als würde mein Klon die Regie übernehmen und nachts ohne mein Zutun in die Tasten hauen. Kein Wunder, dass tatsächlich die meisten meiner Texte rund um Mitternacht entstehen, wenn mein echtes Ich schon den Schlaf der Gerechten schläft. Carmen Wedeland ist schließlich ein Pseudonym, das sich eine vernunftgesteuerte Person zugelegt hat, die in Wirklichkeit Spinnenweben von den Wänden saugt und den Innenhof von Unkraut befreit.

Eine nicht zu leugnende Inspirationsquelle ist der „BLV Naturführer Insekten“ von 1978, den ich als Kind geschenkt bekam und ausführlich studierte. Am liebsten waren mir die Schmetterlingsfotos, aber irgendwann stößt man zwangsläufig auf den Eintrag zur Fortpflanzung der Grabwespen. Das hat meinen Glauben an einen gütigen Gott nicht unerheblich erschüttert. (Googelt es selber, wenn ihr schlecht schlafen wollt.)

Wahrscheinlich wurde ich damals infiziert, die Ideen reiften gut 30 Jahre in mir heran, und nun müssen sie alle auf einmal schlüpfen.

Dabei wollte ich ja eigentlich einen Roman schreiben, der auf einer Kreidefelsen-Insel spielt. Meeresmythen, Glaskunst … Grotten. Ihr ahnt es vielleicht: Die Insel ist schon längst überrannt – in diesem Fall von Krebsen, einer handlichen Variante der Gliederfüßer, verwandt mit den Spinnen. Skurril, schön und schauderhaft.

Ähnlich wie meine Hauptfiguren entwickeln auch meine Handlungsstränge regelmäßig ein Eigenleben. Und nachdem mir 30 Jahre lang ums Verrecken keine Idee kam, worüber ich mal eine schöne Fantasy-Geschichte schreiben könnte, sprudeln die Ideen jetzt in den unpassendsten Momenten. Ich habe es mir schon zur Angewohnheit gemacht, immer ein großes Notizbuch dabeizuhaben, um alles sofort aufzuschreiben.

Nicht dass ich all die Geistesblitze jemals verwerten könnte, aber wenigstens plagen sie mich etwas weniger, wenn sie vorläufig auf Papier gebannt sind. Bei Konzertbesuchen oder beim Küchendienst ist das halbwegs praktikabel. Unter der Dusche, wo die allermeisten Ideen zuschlagen, habe ich mein Notizbuch allerdings nicht dabei. Da muss ich die herumwuselnden Spinnen (also, in meinem Kopf!) aushalten, bis ich das Shampoo abgespült und den Schreibtisch erreicht habe.

Zum Glück bin ich mit diesem Problem nicht allein. Im National Novel Writing Month haben geplagte Autoren für die Ideen-Invasion einen schönen Begriff geprägt: das Plot Bunny. Also das „Handlungskarnickel“, das klingt auf Deutsch nur nicht so wendig, wie es in Wirklichkeit ist. Das Plot Bunny ist eine Geschichtenidee, die plötzlich aus einem Loch kriecht, in die du dich verliebst, die du fütterst und in dein Haus lässt – und schon hüpft es auf und ab, geht dir auf die Nerven, vermehrt sich unkontrolliert und übernimmt die Herrschaft über dein Leben. Ausführliche Beschreibungen vieler gefährlicher Unterarten gibt es hier im inoffiziellen NaNoWriMo-Wiki, und im November kann man die Viecher sogar in speziellen Verliesen Spieleparadiesen verwahren lassen, um sich endlich auf ein einziges Romanprojekt zu konzentrieren.

Heute Nacht habe ich vielleicht Ruhe, weil ich die Story mit den sportelnden Spinnentieren soeben abgeschlossen habe.

Aber wer weiß, was Carmen morgen Nacht wieder treibt? Zuletzt faselte sie etwas von abgeschnittenen Fingern und einem Friedhof im Frühling. Klingt nach einer Geschichte aus der Gruselige-Gewächse-Kategorie, aber es würde mich nicht wundern, wenn sich das eine oder andere Insekt einschliche.

In diesem Sinne: Es ist Mitternacht. Wovon träumt ihr so?

Update: Meine erste Kurzgeschichte erscheint am 18. März. Mehr dazu im folgenden Blogeintrag 🙂
Update 2: Dieses Jahr erscheinen mindestens vier meiner Kurzgeschichten. Mehr dazu im Beitrag Sportliche Erfolge.

Wie ich nach Møn kam, um zu schreiben

Vor anderthalb Jahren habe ich mein Leben spontan geändert. Ich habe meine Arbeit und die Menschen, die mir wichtig waren, hinter mir gelassen, um auf eine Insel zu ziehen und ein Buch zu schreiben. Oft werde ich gefragt, wie es dazu gekommen ist. Letztes Jahr im Sommer hatte ich die Ehre, dazu eine Rede halten zu dürfen, am Johannisfeuer in der Pension Bakkegaard Gæstgiveri Møns Klint, die inzwischen mein Zuhause geworden ist. Die Rede war auf Dänisch; nun habe ich meinen eigenen Text endlich in meine Muttersprache übersetzt ;-), und ihr könnt ihn nachlesen.

Als Teil meines Projektes „Integration in Dänemark“ noch ein kurzer Einschub auf Dänisch …

I dag får I mulighed for at læse min båltale, som jeg holdt på Bakkegaard Gæstgiveri Møns Klint til Skt. Hans sidste år. Den fortæller, hvordan jeg kom til Møn og ændrede hele mit liv for at blive forfatter. Se her min historie som PDF: Hvordan jeg kom til Møn – båltale til Skt Hans.

Hier also meine Geschichte, natürlich nicht ohne Fotos:

 

Rede zur Johannisnacht
in der Pension Bakkegaard Gæstgiveri Møns Klint, Juni 2014

Guten Abend!

Es freut mich sehr, dass ich heute Abend hier am Johannisfeuer eine Rede halten darf – und es überrascht mich auch ein wenig …

… denn eigentlich wollte ich auf Møn nur fünf Tage Urlaub machen, und das war im August letztes Jahr. Jetzt bin ich von München nach Møn gezogen, ich schreibe ein Buch und habe ein neues Leben begonnen.

Sie stehen also an einem gefährlichen Ort – denn all diese Umwälzungen begannen mit einem kurzen Besuch hier auf dem Bakkegaard.

„Fünf Tage Urlaub an diesem schönen Ort? Haben Sie ein Glück, dass Sie soviel Zeit haben“, sagten ein paar andere Touristen zu mir, als wir damals aufs Meer blickten. Sie hatten die Kreidefelsen gesehen und mussten schnell weiter.

Ich konnte in diesem Urlaub überhaupt nichts schnell machen, denn ich war kurz vor der Abreise mit dem Fuß umgeknickt. Ich musste es langsam angehen – wie sich zeigte, war das mein großes Glück.

Was ich noch konnte, war Auto fahren, und so fuhr ich zu den Kreidefelsen, genau wie Scharen andere Touristen an jenem schönen Tag im August. Und dann ging ich Dänemarks längste Treppe hinab. 497 Stufen. Machbar in zehn Minuten – wenn man schnell ist. An Krücken brauchte ich fast eine Stunde. Als ich endlich am Strand war, setzte ich mich auf einen Stein, denn ich konnte keinen Meter weitergehen. Mir tat der Fuß weh, und mir tat die Seele weh. Mein Vater war gestorben, meine Mutter war gestorben, und meine Ehe war in die Brüche gegangen, das Ganze im Laufe von neun Monaten, und ich wusste nicht mehr, was ich mit meinem Leben anfangen sollte.

 

Ich saß also auf dem Stein und sah aufs Meer und die Kreidefelsen. Ich saß dort über eine Stunde lang.

Die Wellen rollten heran, wie sie an allen Küsten heranrollen, überall auf der Erde. Sie rollten heran und rollten hinweg, rollten heran und rollten hinweg. Ich sah aufs Meer und atmete mit den Wellen und wurde ganz ruhig.

Eine Gruppe Schüler kam vorbei, warf Steine ins Wasser und ging schnell weiter. Ich blieb sitzen, dort auf dem Stein.

Ich konnte unmöglich schnell weitergehen. Hinter mir erhoben sich die Kreidefelsen in den Himmel. Über hundert Meter Kreide. Strahlend weiß vor dem blauen Himmel. Steiler als alle Hänge der Alpen. Uralt, überwältigend und schön.

Scharen von Touristen kamen die Treppe herunter, machten Fotos und stiegen schnell wieder hinauf. Ich blieb sitzen, dort auf dem Stein, und zum ersten Mal seit vielen Monaten tat mir nichts weh.

Mein Leben war im Lauf eines Jahres dreimal zusammengebrochen. Doch als ich dort auf dem Stein saß, begriff ich, dass alle meine schlimmen Erfahrungen im Vergleich zu den Kreidefelsen verschwindend gering wogen. Zehntausend Jahre dauert es, bis eine Handbreite dieser Felsen entsteht. Millionen von Kokkolith-Algen waren abgestorben, und ihre Skelettreste hatten diese unglaublich schöne Kreide gebildet. Die Kreide war auf den Meeresboden gepresst und wieder hochgehoben worden, Stücke waren abgebrochen und ins Meer gefallen, und doch war aus dem Ganzen etwas Neues geworden, riesig und wunderbar. Das Leben kann zusammenbrechen, und etwas Fantastisches kann daraus entstehen. Wie konnte ich noch traurig sein? All meine schmerzlichen Erlebnisse waren Teil eines größeren Plans. Etwas völlig Neues und Fantastisches war am Entstehen, das spürte ich, als ich dort auf dem Stein saß.

 

Fünf schöne Tage verbrachte ich hier auf dem Bakkegaard. Ich machte kurze Spaziergänge und las viel, und ich machte Notizen – zu Kreide und Meerwasser und der Pflanzenwelt hier auf der Insel.

Ich war nämlich auch nach Møn gekommen, um Ideen für einen Fantasy-Roman zu sammeln. Nach all den Katastrophen in meiner Familie war das das Einzige, wozu ich wirklich Lust hatte. Als Kind hatte ich immer davon geträumt, mit Bäumen und Tieren und Elfen zu sprechen. Mit 13 schrieb ich mein erstes Märchenbuch, 41 Seiten über eine Prinzessin und ein Hirtenmädchen, die entdeckten, dass sie Zwillinge waren und gegen eine Räuberbande kämpfen mussten (hier in einer maschinengeschriebenen Prachtausgabe mit meinen eigenen Illustrationen).

 

Leider machte ich damit nicht weiter. Ich vergaß meine Fantasy-Welt und wurde Journalistin und schrieb über ernsthafte Themen wie Deutschlands Ausbildungssystem und Arbeitsmarkt. Später bekam ich einige große Unternehmen als Kunden, und statt von Magie und Heldentaten schrieb ich von industriellen Produkten und Marketingstrategien. Zum Beispiel eine Chronik für Bosch und Siemens Hausgeräte (hier in einer gedruckten Prachtausgabe mit professionellen Illustrationen). Und damit verdiente ich richtig viel Geld, also war das wohl besser, als Märchenbücher zu schreiben.

So vergingen über 25 Jahre ohne weitere Fantasygeschichten von meiner Seite. Und ich dachte, ich sei mit meinem Leben zufrieden.

Bis zu dem Tag, als mein Vater von einer Leiter fiel und starb. Da merkte ich: Wenn man einen Traum hat, muss man ihn sofort verfolgen, denn es kann jederzeit zu spät sein. Drei Monate später starb meine Mutter an Krebs, und ich erbte genug Geld, um gleich mehrere Träume zu verfolgen, doch in all den Jahren hatte ich vergessen, was mein Traum eigentlich war.

Aber im April letzten Jahres tauchte der Anfang einer Geschichte in meinem Kopf auf: von einer Insel, die auf Fossilien erbaut ist, wo die Menschen magisches Glas herstellen und im Luxus leben, ohne zu ahnen, dass ihre Insel von einem vorzeitlichen Ungeheuer bedroht ist und in einer Sturmflut versinken wird, wenn sie nicht lernen, zusammenzuarbeiten und ihre Insel zu retten.

Diese Geschichte zu schreiben war das Einzige, wozu ich in jenem traurigen Sommer letztes Jahr in München noch Lust hatte.

Also kam ich nach Møn, um zu erleben, wie es auf einer Insel aussieht, die auf Fossilien erbaut ist. Ich fand die Fossilien und noch viel mehr: Ich fand Kreidefelsen, Glaskünstler und einen magischen Ort, der Kreativität ausstrahlt. Und nach meiner Stunde auf dem Stein bei den Kreidefelsen dachte ich: Langsam ergibt das hier alles Sinn!

Ich kehrte nach München zurück und sagte allen meinen Bekannten: Ich habe beschlossen, mein altes Leben hinter mir zu lassen, nächste Woche fahre ich auf eine dänische Insel und schreibe ein Fantasy-Buch.

Und alle sagten: Das will ich auch!

Keine Ahnung, warum sie heute nicht hier sind … aber ich kam, und die nächsten Monate wurden die glücklichsten meines Lebens.

 

Ich wohnte auf dem Bakkegaard und ging viel spazieren, im Kliffwald und am Strand. Jedes Mal kam ich mit neuen Ideen zurück. Ich beschloss, dass meine Fantasy-Insel Kreidefelsen wie Møn haben musste – noch besser, ich brauchte zwei Inseln mit zwei Kreidefelsen, die einander gegenüberlagen. Und ich brauchte Leuchttürme, nicht nur einen wie hier in der Nähe, sondern mehrere in unterschiedlichen Farben. Außerdem brauchte ich einen Zauberwald und jede Menge Höhlen und Erdlöcher mit lebenden Fossilien.

Am Ende hatte ich fast 100 Seiten Beschreibungen meiner Welt.

Auch meine Figuren erwachten zum Leben, und sie begannen zu heiraten und Kinder zu kriegen, und im Dezember waren es plötzlich zehn Hauptfiguren und etwa 30 Nebenfiguren. Ich liebte jede einzelne von ihnen!

Ich beschloss, dass die Glaskünstlerin in Kapitel 2 einen Leuchtturm bauen sollte, in Kapitel 4 würde er zusammenbrechen, in Kapitel 8 würde das Fossil zum Leben erwachen … Bald umfasste mein Plot 50 Seiten, und ich fühlte mich wie eine Göttin! Ich erschuf eine Welt und bestimmte über Leben und Tod. Ich war allmächtig!

 

Und dann ging irgendetwas schief. Jedes Mal, wenn ich von einem Spaziergang zurückkam, hatten die Figuren angefangen, meine Pläne umzuschreiben. Sie saßen auf der Tastatur und riefen mir entgegen: Deine Pläne für Kapitel 2 und 4 und 8 sind Quatsch. Und im Übrigen haben wir uns jede Menge Nebenhandlungen ausgedacht, die auch noch in dein Buch müssen.

Am Ende hatte ich Hunderte Seiten voller Ideen, aber keinen einzigen Satz geschrieben!

Doch dann, in einer finsteren Januarnacht, begann ich endlich zu schreiben. Nach einer Woche hatte ich anderthalb Kapitel in nobelpreiswürdigem Deutsch und dachte: „Wahnsinn! An Ostern bin ich wohl fertig, dann erscheint das Buch und ich werde reich und berühmt.“ Also schickte ich den Text ein paar Testlesern. Und die wurden ganz verwirrt von meinen zehn Hauptfiguren, und die Handlung begriffen sie überhaupt nicht.

Ein paar Tage lief ich weinend herum, und meine zehn Hauptfiguren saßen auf der Tastatur und ließen die Köpfe hängen. Und im Februar strich ich die Hälfte von ihnen und begann von vorn. Ich schrieb wieder anderthalb Kapitel und fand selbst, dass ich das Ganze jetzt im Griff hatte. Die Testleser sagten, der Text sei jetzt besser.

Doch dann las ich das Ganze selbst noch einmal und fand, dass irgendetwas ganz und gar nicht stimmte. Der Text drückte nicht den Kern dessen aus, was ich gern sagen wollte. Wenn ich die Botschaften, die mir vorschweben, wirklich vermitteln will, muss ich wohl noch mehr Nebenhandlungen und eine Hauptfigur streichen.

Inzwischen arbeite ich an der dritten Version meiner ersten Kapitel. Nun glaube ich nicht mehr, dass Autoren allmächtige Schöpfer sind. Einen Roman zu schreiben, das ist mehr, als würde man die Entstehung der Kreidefelsen beobachten. Jede Menge winziger Ideen werden geboren und sterben ab, sie sinken auf den Meeresboden und werden zusammengepresst, sie tauchen wieder auf, strahlen in der Sonne und fallen in sich zusammen. Und der ganze Prozess dauert Millionen Jahre.

 

Trotzdem bin ich überglücklich, dass ich letztes Jahr im August hierherkam, um fünf Tage Urlaub zu machen. Ich habe einen Ort gefunden, an dem ich mein Leben verbringen will, und Vivi und Uffe haben mich willkommen geheißen, gemeinsam mit vielen anderen freundlichen Menschen hier auf Møn. Deshalb bleibe ich hier auf dem Bakkegaard wohnen, denn das war das Beste, was ich in meinem ganzen Leben gemacht habe: Ich kam hierher, saß auf einem Stein an den Kreidefelsen und versuchte nicht, schnell weiterzukommen.

Danke, dass ihr mir Gesellschaft geleistet habt!