Die innere Stimme singen lassen

Mitte Januar 2018. „So geht das nicht weiter“, ermahnte ich mich mit ernster Stimme. „Reiß dich zusammen und such mehr Arbeit. Lukrative Texterjobs, los jetzt.“ Ich hielt mir die Ohren zu. „Aber ich will nur nähen“, antwortete ich, mit piepsiger Stimme und schlechtem Gewissen. Ich hatte schon über den Weihnachtsurlaub hinaus meinem Hobby gefrönt. „Das geht nicht lange gut“, schimpfte ich, während ich weiter Stoffe zusammensteppte. „Morgen fängst du mit der Arbeitssuche an. Schreiben, Übersetzen, was Solides im Büro. Werd endlich vernünftig.“

Drei Tage später, die Nähmaschine surrt, der Kontostand schrumpft. Da schickt meine Nählehrerin eine Nachricht. „Ich brauche dringend Hilfe!“ Eine Handarbeitsmesse droht am Horizont, sie will ausstellen. Könnte ich Stoffe zuschneiden, Sachen packen und andere Arbeiten erledigen?

Zwei Wochen später, die Nähmaschine stand kaum still. Ich habe geschnitten und genäht, Ärmel eingesetzt und Knöpfe mit Stoff bezogen.  Ich habe Neues gelernt, bin rechtschaffen müde, die Katzen der Nähschule hatten hyggelige Gesellschaft und meine Nählehrerin freut sich über die fertigen Ausstellungsstücke, mit der das Kursuscenter Emilielunden würdig auf der Messe „Alt om Håndarbejde“ vertreten sein wird.

Abends habe ich weitergenäht, Tischdecken für einen anderen Kunden und ein schickes Shirt für mich selbst. Diesmal mit gutem Gewissen, denn der Kontostand stieg, während die Nähmaschine surrte! Und die Stimme, die Anfang des Jahres so piepsig klang, hat angefangen zu singen.

 Ich sollte mehr auf diese innere Stimme hören. Sie hatte schon öfter Recht. „Du fährst in die falsche Richtung“, flüsterte sie, als ich 2013 von meinem Inselurlaub nach Hause fuhr. Ich kehrte um (ein paar Wochen später) und wohne seitdem auf Møn. Was ziemlich verrückt klang, hat mich auf Jahre glücklich gemacht. Andere Male habe ich die kleine Stimme überhört, habe das Gewohnte gemacht, das Solide, was von mir erwartet wurde. Es hat mich ernährt, aber ganz glücklich war ich nie. „Hör auf dein Bauchgefühl, es weiß viel mehr, als du denkst“, sagte eine weise Frau einmal zu mir, und jetzt versuche ich das zu beherzigen.

Nichts gegen lukrative Texterjobs. Texten macht Spaß, im November habe ich viel geschrieben, wenn auch an meinem Romanprojekt statt an lukrativen Aufträgen. Wieder so ein Schachzug der inneren Stimme, die mich dauernd vom geraden Weg abbringt. Doch im Dezember verlor ich das Texten aus dem Fokus, weil mir eine neue Idee kam: Ich will Kirchensängerin werden. Die Stimme der Vernunft begann gleich zu meckern: „Du bist Mitte 40, willst du für einen Nebenjob eine weitere Ausbildung anfangen, mit unsicherem Erfolg?“ Aber ich bekam immer mehr Lust darauf. Auf die Ausbildung, auf die Arbeit. So motiviert war ich schon lange nicht mehr, außer fürs Nähen und Schreiben. Ich recherchierte: Hier in Dänemark gibt es in jeder Dorfkirche einen Kirchensänger, der die Gesangbuchlieder staatstragend mitsingt, damit die Gemeinde der Melodie leichter folgen kann. Eine Art 400-Euro-Job, Umfang je nach Größe der Gemeinde. Wenn ich so eine Stelle bekäme, ob fest oder als Vertreterin, wäre das aktuell meine fünfte Einnahmequelle, neben dem Schreiben/Übersetzen, den sommerlichen Rezeptionsjobs, einer kleinen Putzstelle und nun auch gelegentlichen Näh-Einsätzen 🙂

Fünf Einnahmequellen, fünf Quellen der Freude. Jede dieser Tätigkeiten macht mir Spaß. Solange ich sie in Teilzeit machen darf. In Vollzeit Putzen wäre mir zuviel, in Vollzeit Schreiben allerdings auch. Mit Mitte 40 habe ich endlich beschlossen, das zu akzeptieren. Ich werde nie groß Karriere machen, weil ich mich auf kein einzelnes Gebiet spezialisieren will.

Aber ich werde immer wieder Neues lernen. Ich werde mit verschiedensten Menschen Kontakt haben – wunderbaren Menschen, jeder auf seine Art. Ich werde Zusammenhänge erkennen, die nicht jeder sieht (etwa „Was Romanautoren von Rezeptionisten lernen können“ ). Ich werde Projekte realisieren können, die mehrere Gebiete verbinden (wie etwa mein Buch „Handmade Hygge“, das letzten September erschien, oder Übersetzungen von Kirchenliedern, die ebenfalls teils schon veröffentlich sind). Ich werde (hoffentlich) keinen Burnout bekommen. Und ich werde (hoffentlich) von all dem leben können.

Ich werde meine innere Stimme singen lassen.

Dänische Lieder übersetzt: Grundtvig, Skyerne gråner – Grau sind die Wolken

Draußen ist es kalt, windig und grau. Wir sehnen uns nach Weihnachten und der Rückkehr des Lichtes. Am 13. December ist Luciafest. In vielen dänischen Kirchen finden in diesen Tagen Lucia-Gottesdienste statt, bei denen weiß gekleidete Mädchen mit Kerzen in die Kirche einziehen. Die Tradition kommt eigentlich aus Schweden und fiel früher auf den kürzesten Tag des Jahres, die Wintersonnenwende.

In manchen dänischen Kirchen singt man zu diesem Anlass das Lied „Skyerne gråner“ von Grundtvig. Das Lied hieß ursprünglich „Efterår“ („Herbst“), der Text eilt aber schnell auf den Winter zu,  streift den Frühling und macht überraschende Ausflüge in die nordische und christliche Mythologie.

Da ich keine deutsche Übersetzung finden konnte, habe ich die Herausforderung angenommen und selber eine verfasst – oder sagen wir besser: eine Nachdichtung versucht, denn alle Inhalte, Assoziationen, Stab- und Endreime lassen sich kaum gleichzeitig in das Versmaß pressen. Meine Fassung wurde 2015 im Deutsch-Dänischen Kirchengesangbuch abgedruckt, aber wenn ihr das nicht zur Hand habt, bekommt ihr sie zur Feier des Tages jetzt hier:

Grau sind die Wolken, das Laub fällt nieder

Grau sind die Wolken, das Laub fällt nieder,
fort ist der Vögel Gesang,
kalt droht der Winter, die Nacht kehrt wieder,
Blumen im Schnee klagen bang.
Doch wir tragen Fackeln voll Freude!

Schnell kommt der Winter, der Schnee fällt nieder,
Blumen vergehen im Grund.
Licht ging verloren, und Klagelieder
klirren aus frostigem Mund.
Doch wir tragen Fackeln voll Freude!

Leben regt neu sich zur Sonnenwende,
nun wird der Tag wieder lang.
Wachsendes Licht bringt des Winters Ende,
hoch fliegt der Lerche Gesang.
Und wir tragen Fackeln voll Freude!

Leben wird tief aus dem Tod geboren,
Lieder lobsingen der Zeit:
Vögel, die Federn im Herbst verloren,
fliegen im Frühling erneut.
Und wir tragen Fackeln voll Freude!

Leicht fliegen Vögel auf Windes Schwingen
hoch über tosendem Meer,
weit fliegen Lieder, die weise singen
von Tod und Wiederkehr.
Und wir tragen Fackeln voll Freude!

Laut schlagen Herzen, sie stolpern, beben,
folgten den Vögeln so gern,
dennoch, das Licht siegt, das finstre Streben
sinkt in der Erde Kern.
Und wir tragen Fackeln voll Freude!

Lieder erklingen und Glocken läuten,
Heilige Nacht wärmt den Sinn.
Winter wird bald auf den Frühling deuten,
Sonne schmilzt Sorgen dahin.
Und wir tragen Fackeln voll Freude!

Tief in der eisigen Nacht gebären
glaubende Herzen das Licht,
kosen den Frühling, den treu sie nähren,
der neues Leben verspricht.
Und wir tragen Fackeln voll Freude!

Ewiger Frühling, im Frost gekommen,
Bethlehem strahlt in der Nacht,
glaubende Herzen, ihr habts vernommen:
Christ hat das Leben gebracht!
Und wir tragen Fackeln voll Freude!

N. F. S. Grundtvig 1847.
Übersetzt von Carmen Wedeland 2015.
(Übersetzung veröffentlicht von meinem Alter Ego im Deutsch-Dänischen Kirchengesangbuch 2015)

Und hier kommt der Originaltext. Er stammt von Nikolai Frederik Severin Grundtvig (1783 – 1872), dem bedeutenden Theologen, Dichter, Politiker und Gründer der dänischen Heimvolkshochschul-Bewegung.

Vertont wurde das Gedicht von Thora Borch, die Melodie kann man z. B. hier auf der Webseite des dänischen Gesangbuches abspielen lassen und auf YouTube gibt es viele Aufnahmen des Stückes mit dänischen Chören und diversen Künstlern.

Wer eine andere deutsche Übersetzung kennt: Ich würde mich freuen, davon zu hören.

Skyerne gråner, og løvet falder
(Den Danske Salmebog nr. 733)

Skyerne gråner, og løvet falder,
fuglene synger ej mer,
vinteren truer, og natten kalder,
blomsterne sukker: det sner!
Og dog bære blus vi med glæde!

Vinteren kommer, og sneen falder,
blomsterne visner i muld,
isen optøs ej af gråd for Balder,
tårerne stivner af kuld.
Og dog bære blus vi med glæde!

Solhvervet kommer, og bladet vendes,
dagene længes på ny,
solskinnet vokser, og vintren endes,
lærkerne synger i sky.
Derfor bære blus vi med glæde!

Årene skifter af gru for ælde,
skjaldene giver dem ret,
fuglene alle hvert år må fælde,
ellers de fløj ej så let:
Derfor bære blus vi med glæde!

Fuglene flyver som vind på vinger
let over vildene hav,
skjaldene flyver, som rimet klinger,
glat over slægternes grav.
Derfor bære blus vi med glæde!

Hjerterne vakler, når højt de banke,
drages til fuglenes spor,
lyset dog sejrer, den mørke tanke
flygtende synker i jord.
Derfor bære blus vi med glæde!

Salmerne klinge og klokker kime,
spotter med sneen ved jul,
vinteren må sig med våren rime,
smelte for solen i skjul.
Derfor bære blus vi med glæde!

Troende hjerter i vinterløbet
føder den liflige vår,
trykker den til sig i barnesvøbet
med et lyksaligt nytår!
Derfor bære blus vi med glæde!

Betlehems-barnet i krybberummet
det er den evige vår,
troende hjerter det har fornummet:
Jul gør lyksaligt nytår!
Derfor bære blus vi med glæde!

N. F. S. Grundtvig 1847.

P. S. Im Februar habe ich die Übersetzung eines schönen Wintergedichts veröffentlicht: B. S. Ingemann, I sne står urt og busk i skjul – Der Schnee bedecket Busch und Baum.

Dänische Lieder übersetzt: Ingemann, I sne står urt og busk i skjul – Der Schnee bedecket Busch und Baum

Kennt ihr dieses Gefühl: Ihr lest ein Gedicht und taucht sofort in eine andere Welt ein? Erkennt Stimmungen, spürt Dinge, die ihr selbst nicht schöner oder schmerzlicher in Worte fassen könntet? Manche werden jetzt den Kopf schütteln und wegklicken – Lyrik, wen interessiert das schon … Die meisten von uns hören allerdings gern Musik, und auch gute Lieder wirken noch besser durch ihre guten Texte – wenn wir sie denn verstehen.

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Lise Meijer, Der Raum zwischen uns (www.lisemeijer.dk)

Ich sammle Gedichte und Liedtexte, die mich faszinieren. Und manchmal übersetze ich sie auch, vom Dänischen oder Englischen ins Deutsche. Für mich ist das wie Sudoku, eine reizvolle Herausforderung.

Für die wenigen, die mein Interesse teilen, hier nun ein Klassiker des dänischen Liederschatzes, von mir frisch übersetzt. An der Grenze von Winter und Frühling passen die Verse gut zum heutigen Tag, auch wenn ich hoffe, dass es nun nicht noch einmal schneien wird … Liebe Grüße von der Insel!

Der Schnee bedecket Busch und Baum

Der Schnee bedecket Busch und Baum,
die Welt liegt starr in Schweigen.
Ein Vogel singt, du siehst ihn kaum
auf weiß beladnen Zweigen.

Geduld! Er singt in stillem Glück
und schüttelt sein Gefieder,
Geduld! Der Frühling kehrt zurück,
die Blumen blühen wieder.

Geduld! Bald wächst des Lebens Baum
aus grün gewordnen Erden,
Geduld! Bald soll dein schönster Traum
in Wahrheit sichtbar werden.

Geduld! Bald flieht des Geistes Nacht
und Sonne füllt den Garten.
Geduld! Schon bald kommt Gottes Pracht,
das Reich, das wir erwarten.

B. S. Ingemann 1831.
Übersetzt von Carmen Wedeland 2017.

Illustrationen auf dieser Seite mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin Lise Meijer. Das Originalgemälde „Der Raum zwischen uns“ hängt in meinem Schlafzimmer, weitere Malereien, Poster und Kunstkarten gibt es in ihrem Webshop: www.lisemeijer.dk

Und hier der dänische Originaltext. Der Autor, Bernhard Severin Ingemann (1789 – 1862), war ein dänischer Schriftsteller, der romantische Lyrik, historische Romane und religiöse Gedichte verfasste. Mehr über ihn steht z. B. im deutschen Wikipedia-Eintrag.

Das Gedicht wurde von J. P. E. Hartmann vertont (der bisher nur einen dänischen Wikipedia-Eintrag hat); wer die Melodie hören will, kann den dänischen Titel bei YouTube eingeben und sich eine Chor- oder Klavierversion aussuchen.

Wer eine andere deutsche Übersetzung kennt: Ich würde mich freuen, davon zu hören.

I sne står urt og busk i skjul

I sne står urt og busk i skjul,
det er så koldt derude,
dog synger der en lille fugl
på kvist ved frosne rude.

Giv tid! giv tid! – den nynner glad
og ryster de småvinger,
giv tid! og hver en kvist får blad,
giv tid! – hver blomst udspringer.

Giv tid! og livets træ bli’r grønt,
må frosten det end kue,
giv tid! og hvad du drømte skønt,
du skal i sandhed skue.

Giv tid! og åndens vinterblund
skal fly for herlig sommer,
giv tid! og bi på herrens stund,
– hans skønhedsrige kommer.

B. S. Ingemann 1831.

Update, 09.12.17:
Passend zu Herbst, Winter und Weihnachten habe ich hier die Übersetzung eines weiteren Klassikers: Grundtvig, Skyerne gråner – Grau sind die Wolken