Zeit zum Ernten, Zeit zum Erden

Heute beginnt der Herbst. Bucheckern und braune Blätter knirschen unter meinen Füßen. Die Nacht hat den Tag eingeholt, und ich lege zum ersten Mal in meinem Leben Rote Bete ein.

In meiner Küche türmen sich Äpfel aus unserem Garten. Manchmal finde ich eine Birne im Gras, die noch keinen Bewohner angelockt hat. Und neulich abends kullerten vor meinem Fenster Mirabellen die Straße hinab. Ich ging hinaus auf der Suche nach der Quelle. Im Licht des dunkelgelben Vollmonds fand ich den Mirabellenbaum, direkt hinterm Haus; er war dabei, das Auto meiner Vermieter mit goldenen Kugeln zu umstreuen. Nun esse ich frische Mirabellen zum Müsli und Mirabellenkuchen am Nachmittag. Wie schön, wenn einem die Früchte in den Schoß fallen, sogar ohne Gartenarbeit!

Seit ein paar Wochen stehen hier an den Landstraßen auch viele kleine Buden, in denen Gartenbesitzer ihre Ernte für wenig Geld zum Mitnehmen anbieten. Im Nachbardorf habe ich mich neulich mit der Roten Bete eingedeckt, dazu Lauch, Tomaten und Zucchini, alles besser und billiger als im Supermarkt. Auf der anderen Straßenseite gibt es Eier und Kartoffeln, und die Kinder meiner Nachbarn verkaufen Apfelmost, seit ihr Kirschbaum nichts mehr hergibt. Eine größere Auswahl an Gemüse und Fleisch bieten die Hofläden, die über die Insel verstreut liegen, und neulich war an der Kirche Erntemarkt, wo ich mich mit Marmelade und Sirup für die nächsten Monate versorgt habe.

Mir ist gerade viel mehr nach Ernten und Einmachen als nach Schreiben, Rechnen und anderer Kopfarbeit. Vielleicht ist das wieder eine der vielen Vermeidungsstrategien, die sich mein Unterbewusstsein ausdenkt, um mein finanzielles Vorankommen und andere messbare Erfolge zu verhindern. Vielleicht brauche ich einfach diese geruhsame Tätigkeit nach der Arbeit in der Touristensaison. Oder es ist das Landleben, das mich nach drei Jahren endlich im Griff hat: Ich spiele doch tatsächlich mit dem Gedanken, den Garten nächstes Jahr systematischer zu nutzen, vielleicht mal ein Beet anzulegen, den Stachelbeerbusch zu retten … oder wenigstens am Fensterbrett Kräuter zu ziehen, wenn für mehr die Ausdauer nicht reicht.

Ein jegliches hat seine Zeit, sagte schon der Prediger Salomo. Pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit.

Bilanz ziehen hat seine Zeit, hätte er vielleicht in heutiger Management-Sprache geschrieben.

Ich glaube, ich brauche diese Phase des Sammelns, des Verarbeitens, um auch mein Leben zu betrachten und was ich damit machen will; um meine Gedanken zu ordnen, mich zu erden, einen Vorrat anzulegen an guten Dingen, mit denen ich weiterarbeiten will. Ob das nun Jobs sind, die mich ernähren, oder Menschen, die mich erfreuen; Stoffe, die ich vernähe, oder Ideen, aus denen ich Geschichten entwickle. Vielleicht kann man in der Küche ganz nebenbei Romanfiguren einlegen, Handlungsstränge vermischen und aufgehen lassen, Stilelemente kleinhacken und drüberstreuen. Ich glaube nämlich, es gärt in mir 🙂

Sobald der Garten leergeerntet ist, sobald in meine Küchenschränke nichts Neues mehr passt, setze ich mich wieder an den Schreibtisch. Dann sind die Abende lang, der Nebel quillt über den Feldern, ich öffne meine Vorratsbehälter und schreibe los.

Einen schönen Herbst und eine gute Ernte euch allen!

Labyrinth des Lebens

Mögt ihr Labyrinthe?
Ich habe Labyrinthe schon als Kind geliebt.

Dabei habe ich null Orientierungssinn und noch weniger Ortsgedächtnis. Das fiel mir zum ersten Mal auf, als ich in der vierten Klasse einen Aufsatz über meinen Schulweg schreiben sollte und vor meinem inneren Auge nichts als Nebel erschien. Wo fuhr der Bus jeden Morgen lang? Keine Ahnung, ich habe Orts-Legasthenie! Manche finden Orte, an denen sie noch nie waren; ich habe auch nach Jahren der Sesshaftigkeit immer einen Stadtplan/eine Landkarte in der Tasche. Møn macht es mir leicht: Auf einer mittelgroßen Insel kann man nur ein paar Kilometer verkehrt fahren, bis man ins Meer fällt.

Labyrinthe betrachte ich also am allerliebsten aus sicherer Entfernung. Oder eine Zeichnung davon. Labyrinthe aus liegenden Steinen oder kniehohen Pflanzen gehen auch. Ich schummel auch nur ganz manchmal und gehe querbeet.

Manchmal hilft aber alles nichts, denn Labyrinthe können auch mitten im Leben auftauchen. Unvermittelt, vielleicht unüberwindbar. Dann muss es der Nahkampf sein.

So wie letzte Woche, als meine Freundin und Mitstreiterin Demetria Cornfield zu Besuch war. Dank trüben Februarwetters hatten wir keine Schwierigkeiten, uns viele Stunden in das Schreiben von Gruselgeschichten zu versenken. Aber am Sonntagnachmittag war Spazierengehen angesagt.

Unser Plan:
Beim Schloss Liselund die Treppe zum Strand runter, dann nach Süden die Kreidefelsen entlangwandern bis zur Treppe bei Jydelejet, dort rauf und oben an der Steilküste durch den Wald zurück. Kein Problem. Kann sogar ich ohne Karte finden.

Das Ergebnis:
Zwei Stunden durch herabgestürzte Bäume klettern, über tosenden Wellen hängen, sich jeden Meter erkämpfen und schließlich doch an Schlammlawinen scheitern. Tüfteln, ausprobieren, eigene Grenzen überwinden, neue Richtungen einschlagen. Geradeaus über den glitschigen Stamm oder rechts durch das rutschige Geröll? Unter den Zweigen durchkrabbeln oder sich oben hindurchhangeln? Trotz beginnenden Muskelkaters kamen wir keine zweihundert Meter weit. Mit nassen Schuhen und blauen Flecken saßen wir irgendwann wieder im Auto.

Wir fanden, es war der beste Tag seit Langem 🙂

Der Weg ist das Ziel – je verschlungener, desto schöner!

Als ich 2013 nach Møn kam, dachte ich, ich hätte einen klaren Plan. Ein Jahr Auszeit, den besten Roman aller Zeiten schreiben, dann von den Millionen leben. Bei Misserfolg: Zurück in den alten Beruf. 1 oder 0. Sehr straight. Und völliger Quatsch.

Dass der Roman ein Eigenleben entwickelte und sich nicht so geradeaus schreiben ließ, habe ich ja schon mal erzählt. Und selbst wenn ich ihn nach einem Jahr hätte veröffentlichen können, was dann? Bei Erfolg hätten die Leser mehr gewollt – doch in jenem ersten Jahr hatte ich null Ideen, worüber ich sonst schreiben könnte. Und ich hatte auch keine Ideen, wo ich in meinem alten Beruf wieder anknüpfen sollte oder was ich mit meinem Leben noch wollte.

Es kam ja auch anders. Statt eines fertigen Romans habe ich jetzt einen halbfertigen. Dazu aber eine Handvoll fertige Kurzgeschichten, Dutzende Ideen für weitere, Ideen für mehrere weitere Bände zum Roman, Ideen für einen ganz anderen Roman, einen Blog und Kontakte zu verschiedenen anderen Schriftstellerinnen am Anfang ihrer Autorenkarriere.

Material für viele Jahre, und es wächst organisch. In ein paar Wochen erscheint meine erste Kurzgeschichte in einer Anthologie, im Lauf des Jahres vielleicht die nächste: Vor Kurzem habe ich erfahren, dass ich bei der Storyolympiade, einem Literaturwettbewerb für Nachwuchsschriftsteller, eine Runde weitergekommen bin. Das Thema war „Labyrinthe“ 🙂

Da ich auch für Fantasytexte gern recherchiere, machte ich letzten Herbst einen Ausflug auf die Nachbarinsel Seeland. Dort liegt der Kalvehave Labyrintpark, den zwei Chor-Mitsänger von mir vor zehn Jahren auf der grünen Wiese angelegt haben. Im Dienste der Literatur traute ich mich ins große Efeulabyrinth, nicht zum ersten Mal, und fand mal wieder den Weg ins Zentrum nicht. Nach über einer Stunde hatte ich aber immerhin alle Stationen der labyrinthinternen Schnitzeljagd entdeckt, ein kaum erhoffter Triumph. Ich brannte darauf, mir am Eingang meine Urkunde abzuholen … und fand nicht mehr aus dem Labyrinth hinaus. Ich stand vor der äußersten Hecke, es dämmerte, und irgendwann gab ich den letzten Anschein von Würde auf und robbte unter dem Zaun durch. Zum Glück sind es keine Buchsbaumhecken, sondern Bretter, an denen Efeu hochrankt, Lücke bis zum Boden etwa 30 cm …

Die Hauptfigur in der Kurzgeschichte, die kurz darauf für die Storyolympiade entstand, scheitert zur Strafe noch übler, bevor sie ihr Ziel erreicht 😉

Meine Schreiberei ist bunter und vielfältiger geworden, seit ich den geraden Pfad verlassen habe und den Irrungen und Wirrungen meiner Fantasie folge. Und auch mein „echtes Leben“ verzweigt sich auf überraschende Weisen. Da keine Bestseller-Millionen in Sicht sind, bin ich seit einigen Monaten wieder auf Kundensuche als freie Texterin, Redakteurin, Übersetzerin … das war zumindest der Plan.

De facto habe ich noch nicht zielstrebig gesucht, sondern z. B. als Rezeptionistin gejobbt und entdeckt, dass es mir Spaß macht, auch mal den Schreibtisch zu verlassen. Und nun haben mich meine Mitsänger, die Labyrinthbesitzer, gefragt, ob ich im Sommer im Labyrinthpark mitarbeiten will! 80 Prozent deutsche Gäste in der Vorsaison freuen sich über eine mehrsprachige Begrüßung. Vielleicht mögt ihr auch mal durch die Efeuhecken tauchen? Die haben da auch Leute mit Orientierungssinn, die verloren gegangene Besucher wieder rausholen 😉

Darüber hinaus sind in den letzten Wochen zwei neue Kunden mit interessanten Schreibjobs aufgetaucht, auf die ich nicht hingearbeitet habe und über die ich mich sehr freue!

Also – rein ins Labyrinth des Lebens, auch wenn man keinen Plan hat. Geht es nicht viel mehr um die kleinen Entdeckungen auf dem Weg? Die immer neue Vorfreude, wenn man einen unerwarteten Durchgang auftut? Die Bereitschaft, jede Wendung als Bereicherung wahrzunehmen? Auch wenn sie durch eine Senke führt oder zurück zum Ausgangspunkt, diesmal vielleicht mit neuer Perspektive?

Ist euer Lebens-Labyrinth auch so gewunden?

Update: Meine Labyrinth-Geschichte zählt zu den Siegern der Storyolympiade. Mehr dazu in diesem Beitrag 🙂

Umfrage: Eine Stunde oder ewig?

Juhu – ich habe eine Idee für ein neues Buch. (Habe ja höchstens zehn angefangene auf der Festplatte.) Diesmal, liebe Blogleserin, lieber Leser, hätte ich gern deine Hilfe! Denn auch Fantasy und Science-Fiction werden durch Recherche besser.

Also … Folgendes: Ein ganz normaler Tag in deinem Leben, du sitzt am Frühstückstisch. Plötzlich schwebt ein riesiges Raumschiff über der Welt.

Das Raumschiff öffnet sich. Überzeugende Außerirdische bauen sich vor der Menschheit auf und fragen jeden einzeln:

Willst du noch eine Stunde leben – oder ewig?

Alle werden gleichzeitig gefragt. Jeder bekommt zwei Minuten Bedenkzeit. Für Kinder unter sechs entscheiden die Erziehungsberechtigten. Wer ewig leben will, dessen Alter wird eingefroren, und er kann auch nicht mehr durch Gewalteinwirkung sterben. Wer noch eine Stunde leben will, den lassen die Außerirdischen in Ruhe und dann stirbt er schnell und schmerzlos.

Halt, du bist noch nicht entlassen.

Warum würdest du so entscheiden?

Wenn du ewig leben willst: Wie stellst du dir dein weiteres Leben vor?

Wenn du das nicht willst: Was machst du in deiner letzten Stunde?

Bitte klicke unter der Blogeintrag-Überschrift auf (x) Kommentare, scrolle ganz nach unten bis zum Kommentarfeld, und tobe dich aus! Ich freue mich auf viele Ideen und werde deine Gedanken gnadenlos ausschlachten 😉

Zum Dank baue ich deinen Namen gern in das Buch ein … oder dein Haustier … oder deinen Lieblingsort … schreib mir einfach, wenn du so etwas möchtest 🙂

Inspirierte Grüße von Carmen

 

 

Carmen lernt wieder lachen

Im Januar habe ich am Schreibwettbewerb „Die Kunst der Einfachheit“ teilgenommen. Das Thema war frei wählbar, doch sollte die Geschichte in Leichter Sprache verfasst sein. Klare Sätze, allgemein verständliche Wörter, nicht zu viele Ideen in einem Absatz, so dass die Texte auch für Menschen mit Lernschwierigkeiten u. Ä. geeignet sind. Mehr über die Hintergründe findet ihr in meinem Blogeintrag vom 31.1., mehr über Leichte Sprache zum Beispiel hier: www.leichtesprache.org.

741 Texte wurden eingereicht. Die schlechte Nachricht: Meine Geschichte ist nicht in die Endauswahl gekommen. Die guten Nachrichten: Ich habe viel dabei gelernt – und ihr könnt meine Geschichte jetzt sofort online lesen.

Sie beruht auf einer wahren Begebenheit, die ich im März schon in „schwerer Sprache“ beschrieben habe: Wie ich nach Møn kam, um zu schreiben.

Ich widme diese Geschichte meinem Vater, der heute 72 Jahre alt geworden wäre.

 

Carmen lernt wieder lachen

Carmen steht oben an der Treppe.
Sie weint.

Die Treppe ist sehr lang.
Sie führt durch einen Wald.
Sie führt nach unten zum Strand.

Carmen will gerne zum Strand.
Alle sagen:
Dieser Strand ist wirklich schön.

Aber der Fuß von Carmen tut weh.
Sie geht an Krücken.

Sie will den Strand trotzdem sehen.
Sie muss die Treppe runter.

Die Treppe ist sehr lang.
Carmen geht und geht.
Ihr Fuß tut weh.
Sie macht eine Pause.

Carmen sieht nach unten.
Viele Menschen gehen auf der Treppe.
Sie haben gesunde Füße.
Sie gehen schnell.
Sie lachen.

Carmen denkt:
Ich schaffe das nicht.
Aber sie nimmt ihre Krücken.
Sie geht weiter.
Die Treppe ist wirklich sehr lang.
Carmen geht und geht.
Sie macht noch eine Pause.
Sie sieht nach unten.
Sie sieht keinen Strand.

Carmen weint.
Ihr Fuß tut weh.
Gehen ist zu schwer für sie.

Leben ist zu schwer für sie.
Der Papa von Carmen ist tot.
Das tut sehr weh.
Noch mehr als der Fuß.

Carmen weint weiter.
Sie will auch tot sein.
Sie macht ganz lange Pause.
Sie sieht nach unten.
Sie will nicht mehr gehen.

Da hört sie etwas Schönes:
Ein Vogel pfeift im Wald.
Carmen sieht nach oben.

Der Wald ist groß.
Die Sonne scheint.
Die Bäume leuchten grün.
Der Boden ist ganz weiß.
Dieser Wald ist wirklich schön.

Der Vogel pfeift wieder.
Der Papa von Carmen konnte auch gut pfeifen.
Der Vogel fliegt weg.
Carmen denkt:
Der Vogel fliegt zum Strand.
Carmen nimmt ihre Krücken.
Sie geht weiter.

Die Treppe ist immer noch lang.
Carmen geht und geht.
Sie macht viele Pausen.
Sie sieht nicht nach unten.

Sie sieht auf den Wald.
Der Wald ist schön.
Der Vogel ist weg.
Aber Carmen hört jetzt die Wellen.

Die Treppe ist zu Ende.
Carmen kommt zum Strand.
Sie setzt sich auf einen großen Stein.
Sie freut sich ein bisschen.
Sie hat es geschafft.
Der Wald war schön.

Aber der Fuß von Carmen tut weh.
Ihr Papa ist tot.
Carmen weint schon wieder.
Sie will auch tot sein.
Sie sieht nach unten.

Viele Menschen kommen.
Alle wollen den schönen Strand sehen.
Carmen sieht ein Kind.
Es spielt mit seinem Papa.
Der Papa sagt zu dem Kind:
Ich habe dich lieb!
Carmen sitzt auf dem großen Stein.
Sie ist kein Kind mehr.
Aber der Papa von Carmen hatte sie lieb.
Er hat ihr viel geholfen.
Er hat mit ihr gesungen.
Er konnte gut pfeifen.
Carmen hat viel gelacht.

Jetzt ist alles anders.
Ihr Papa ist tot.
Carmen hat viel geweint.
Sie kann nicht mehr lachen.

Carmen denkt:
Papa darf nicht tot sein.
Er soll immer da sein.

Alle sollen immer leben.
Alles soll immer gleich bleiben.
Nichts darf anders werden.

Ich verbiete es.
Ich mache nicht mehr mit.

Carmen sitzt auf dem großen Stein.
Sie sieht nach unten.
Sie weint.

Das Kind kommt zu ihr.
Das Kind sagt zu Carmen:
Du musst doch nicht weinen!
Guck mal, da!
Der Strand ist schön!

Carmen sieht nach oben.
Der Strand ist sehr groß.
Schwarze Steine liegen am Boden.

Die Sonne scheint.
Die Steine glänzen.
Das ist schön.

Eine Welle rollt über die Steine.
Die Welle rollt wieder weg.
Die Steine glänzen noch mehr.
Auch das ist schön.

Eine Wolke kommt vor die Sonne.
Die Steine sind jetzt grau.
Carmen findet:
Auch das ist schön.

Der Strand ist immer anders.
Mal schwarz, mal glänzend, mal grau.
Er bleibt nie gleich.
Und das ist das Schönste.

Carmen sieht auch weiße Steine.
Ein paar weiße Steine sind sehr groß.
Sie leuchten in der Sonne.

Carmen fasst die weißen Steine an.
Sie sind nass.
Carmens Hand wird weiß.

Sie merkt:
Die weißen Steine sind aus Kreide.

Die Kreide-Steine sind weich.
Das Kind bricht ein Stück davon ab.
Es malt mit der Kreide.
Es malt ein Gesicht auf den schwarzen Strand.
Dann ist das Kreide-Stück nicht mehr da.
Aber das Gesicht lacht.

Carmen freut sich.
Sie denkt:
Das Kreide-Stück ist nicht mehr da.
Aber etwas Neues ist an den Strand gekommen.
Ein lachendes Gesicht.

Papa ist nicht mehr da.
Wie das Kreide-Stück.
Aber ich bin da.
Und ich lache jetzt auch.
Wie das Gesicht aus Kreide.

Ein kleiner Stein fällt aus der Luft.
Carmen sieht nach oben.
Sie staunt:
Ein großer Felsen steht hinter ihr!

Der Felsen ist hoch wie der Himmel.
Er glänzt in der Sonne.
Er ist weiß wie die Wolken.
Er ist ganz aus Kreide.

Manche Teile vom Felsen sind rund.
Manche Teile vom Felsen sind spitz.
Es gibt Löcher und Zacken.
Der Felsen ist schön wie eine Krone.
Wie eine Krone aus Kreide.
Noch ein kleiner Stein fällt aus der Luft.
Carmen sieht:
Der Stein ist aus Kreide.
Der Stein ist vom Felsen abgebrochen.

Weiße Steine liegen überall am Strand.
Sie sind alle vom Felsen abgebrochen.
Der Felsen hat Löcher und Zacken.
Der Felsen ist schön wie eine Krone.
Weil Steine abbrechen.

Der Felsen bleibt nie gleich.
Viele Stücke brechen ab.
Viele Stücke sind nicht mehr da.
Aber etwas Neues ist gekommen.
Der Felsen sieht jetzt aus wie eine Krone.
Das ist schön.

Carmen denkt:
Dinge dürfen anders werden.
Neue schöne Dinge kommen.

Papa ist tot.
Das ist traurig.
Alles ist jetzt anders.
Aber ich verbiete es nicht mehr.
Ich mache wieder mit.
Neue schöne Dinge kommen.

Carmen sieht nach oben.
Bäume wachsen auf dem Felsen.
Das ist der schöne Wald.
In dem Wald ist die lange Treppe.
Die Treppe ist so hoch wie der Felsen.
Carmen geht nach oben.
Ihr Fuß tut nicht mehr weh.
Sie freut sich auf ihr neues Leben.
Der Vogel pfeift.
Und Carmen lacht.

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Woher kommt diese Geschichte?

Carmen Wedeland hat diese Geschichte geschrieben.
Carmen Wedeland wohnt auf einer Insel.
Die Insel heißt Møn.

Die Insel hat einen schönen Wald.
Und einen großen Strand.
Und Felsen aus Kreide.
Wie eine Krone.

Carmen geht oft zu den Kreide-Felsen.
Die Treppe ist lang.
Aber Carmen weint nicht mehr.
Sie lacht.

 

 

Wie ich nach Møn kam, um zu schreiben

Vor anderthalb Jahren habe ich mein Leben spontan geändert. Ich habe meine Arbeit und die Menschen, die mir wichtig waren, hinter mir gelassen, um auf eine Insel zu ziehen und ein Buch zu schreiben. Oft werde ich gefragt, wie es dazu gekommen ist. Letztes Jahr im Sommer hatte ich die Ehre, dazu eine Rede halten zu dürfen, am Johannisfeuer in der Pension Bakkegaard Gæstgiveri Møns Klint, die inzwischen mein Zuhause geworden ist. Die Rede war auf Dänisch; nun habe ich meinen eigenen Text endlich in meine Muttersprache übersetzt ;-), und ihr könnt ihn nachlesen.

Als Teil meines Projektes „Integration in Dänemark“ noch ein kurzer Einschub auf Dänisch …

I dag får I mulighed for at læse min båltale, som jeg holdt på Bakkegaard Gæstgiveri Møns Klint til Skt. Hans sidste år. Den fortæller, hvordan jeg kom til Møn og ændrede hele mit liv for at blive forfatter. Se her min historie som PDF: Hvordan jeg kom til Møn – båltale til Skt Hans.

Hier also meine Geschichte, natürlich nicht ohne Fotos:

 

Rede zur Johannisnacht
in der Pension Bakkegaard Gæstgiveri Møns Klint, Juni 2014

Guten Abend!

Es freut mich sehr, dass ich heute Abend hier am Johannisfeuer eine Rede halten darf – und es überrascht mich auch ein wenig …

… denn eigentlich wollte ich auf Møn nur fünf Tage Urlaub machen, und das war im August letztes Jahr. Jetzt bin ich von München nach Møn gezogen, ich schreibe ein Buch und habe ein neues Leben begonnen.

Sie stehen also an einem gefährlichen Ort – denn all diese Umwälzungen begannen mit einem kurzen Besuch hier auf dem Bakkegaard.

„Fünf Tage Urlaub an diesem schönen Ort? Haben Sie ein Glück, dass Sie soviel Zeit haben“, sagten ein paar andere Touristen zu mir, als wir damals aufs Meer blickten. Sie hatten die Kreidefelsen gesehen und mussten schnell weiter.

Ich konnte in diesem Urlaub überhaupt nichts schnell machen, denn ich war kurz vor der Abreise mit dem Fuß umgeknickt. Ich musste es langsam angehen – wie sich zeigte, war das mein großes Glück.

Was ich noch konnte, war Auto fahren, und so fuhr ich zu den Kreidefelsen, genau wie Scharen andere Touristen an jenem schönen Tag im August. Und dann ging ich Dänemarks längste Treppe hinab. 497 Stufen. Machbar in zehn Minuten – wenn man schnell ist. An Krücken brauchte ich fast eine Stunde. Als ich endlich am Strand war, setzte ich mich auf einen Stein, denn ich konnte keinen Meter weitergehen. Mir tat der Fuß weh, und mir tat die Seele weh. Mein Vater war gestorben, meine Mutter war gestorben, und meine Ehe war in die Brüche gegangen, das Ganze im Laufe von neun Monaten, und ich wusste nicht mehr, was ich mit meinem Leben anfangen sollte.

 

Ich saß also auf dem Stein und sah aufs Meer und die Kreidefelsen. Ich saß dort über eine Stunde lang.

Die Wellen rollten heran, wie sie an allen Küsten heranrollen, überall auf der Erde. Sie rollten heran und rollten hinweg, rollten heran und rollten hinweg. Ich sah aufs Meer und atmete mit den Wellen und wurde ganz ruhig.

Eine Gruppe Schüler kam vorbei, warf Steine ins Wasser und ging schnell weiter. Ich blieb sitzen, dort auf dem Stein.

Ich konnte unmöglich schnell weitergehen. Hinter mir erhoben sich die Kreidefelsen in den Himmel. Über hundert Meter Kreide. Strahlend weiß vor dem blauen Himmel. Steiler als alle Hänge der Alpen. Uralt, überwältigend und schön.

Scharen von Touristen kamen die Treppe herunter, machten Fotos und stiegen schnell wieder hinauf. Ich blieb sitzen, dort auf dem Stein, und zum ersten Mal seit vielen Monaten tat mir nichts weh.

Mein Leben war im Lauf eines Jahres dreimal zusammengebrochen. Doch als ich dort auf dem Stein saß, begriff ich, dass alle meine schlimmen Erfahrungen im Vergleich zu den Kreidefelsen verschwindend gering wogen. Zehntausend Jahre dauert es, bis eine Handbreite dieser Felsen entsteht. Millionen von Kokkolith-Algen waren abgestorben, und ihre Skelettreste hatten diese unglaublich schöne Kreide gebildet. Die Kreide war auf den Meeresboden gepresst und wieder hochgehoben worden, Stücke waren abgebrochen und ins Meer gefallen, und doch war aus dem Ganzen etwas Neues geworden, riesig und wunderbar. Das Leben kann zusammenbrechen, und etwas Fantastisches kann daraus entstehen. Wie konnte ich noch traurig sein? All meine schmerzlichen Erlebnisse waren Teil eines größeren Plans. Etwas völlig Neues und Fantastisches war am Entstehen, das spürte ich, als ich dort auf dem Stein saß.

 

Fünf schöne Tage verbrachte ich hier auf dem Bakkegaard. Ich machte kurze Spaziergänge und las viel, und ich machte Notizen – zu Kreide und Meerwasser und der Pflanzenwelt hier auf der Insel.

Ich war nämlich auch nach Møn gekommen, um Ideen für einen Fantasy-Roman zu sammeln. Nach all den Katastrophen in meiner Familie war das das Einzige, wozu ich wirklich Lust hatte. Als Kind hatte ich immer davon geträumt, mit Bäumen und Tieren und Elfen zu sprechen. Mit 13 schrieb ich mein erstes Märchenbuch, 41 Seiten über eine Prinzessin und ein Hirtenmädchen, die entdeckten, dass sie Zwillinge waren und gegen eine Räuberbande kämpfen mussten (hier in einer maschinengeschriebenen Prachtausgabe mit meinen eigenen Illustrationen).

 

Leider machte ich damit nicht weiter. Ich vergaß meine Fantasy-Welt und wurde Journalistin und schrieb über ernsthafte Themen wie Deutschlands Ausbildungssystem und Arbeitsmarkt. Später bekam ich einige große Unternehmen als Kunden, und statt von Magie und Heldentaten schrieb ich von industriellen Produkten und Marketingstrategien. Zum Beispiel eine Chronik für Bosch und Siemens Hausgeräte (hier in einer gedruckten Prachtausgabe mit professionellen Illustrationen). Und damit verdiente ich richtig viel Geld, also war das wohl besser, als Märchenbücher zu schreiben.

So vergingen über 25 Jahre ohne weitere Fantasygeschichten von meiner Seite. Und ich dachte, ich sei mit meinem Leben zufrieden.

Bis zu dem Tag, als mein Vater von einer Leiter fiel und starb. Da merkte ich: Wenn man einen Traum hat, muss man ihn sofort verfolgen, denn es kann jederzeit zu spät sein. Drei Monate später starb meine Mutter an Krebs, und ich erbte genug Geld, um gleich mehrere Träume zu verfolgen, doch in all den Jahren hatte ich vergessen, was mein Traum eigentlich war.

Aber im April letzten Jahres tauchte der Anfang einer Geschichte in meinem Kopf auf: von einer Insel, die auf Fossilien erbaut ist, wo die Menschen magisches Glas herstellen und im Luxus leben, ohne zu ahnen, dass ihre Insel von einem vorzeitlichen Ungeheuer bedroht ist und in einer Sturmflut versinken wird, wenn sie nicht lernen, zusammenzuarbeiten und ihre Insel zu retten.

Diese Geschichte zu schreiben war das Einzige, wozu ich in jenem traurigen Sommer letztes Jahr in München noch Lust hatte.

Also kam ich nach Møn, um zu erleben, wie es auf einer Insel aussieht, die auf Fossilien erbaut ist. Ich fand die Fossilien und noch viel mehr: Ich fand Kreidefelsen, Glaskünstler und einen magischen Ort, der Kreativität ausstrahlt. Und nach meiner Stunde auf dem Stein bei den Kreidefelsen dachte ich: Langsam ergibt das hier alles Sinn!

Ich kehrte nach München zurück und sagte allen meinen Bekannten: Ich habe beschlossen, mein altes Leben hinter mir zu lassen, nächste Woche fahre ich auf eine dänische Insel und schreibe ein Fantasy-Buch.

Und alle sagten: Das will ich auch!

Keine Ahnung, warum sie heute nicht hier sind … aber ich kam, und die nächsten Monate wurden die glücklichsten meines Lebens.

 

Ich wohnte auf dem Bakkegaard und ging viel spazieren, im Kliffwald und am Strand. Jedes Mal kam ich mit neuen Ideen zurück. Ich beschloss, dass meine Fantasy-Insel Kreidefelsen wie Møn haben musste – noch besser, ich brauchte zwei Inseln mit zwei Kreidefelsen, die einander gegenüberlagen. Und ich brauchte Leuchttürme, nicht nur einen wie hier in der Nähe, sondern mehrere in unterschiedlichen Farben. Außerdem brauchte ich einen Zauberwald und jede Menge Höhlen und Erdlöcher mit lebenden Fossilien.

Am Ende hatte ich fast 100 Seiten Beschreibungen meiner Welt.

Auch meine Figuren erwachten zum Leben, und sie begannen zu heiraten und Kinder zu kriegen, und im Dezember waren es plötzlich zehn Hauptfiguren und etwa 30 Nebenfiguren. Ich liebte jede einzelne von ihnen!

Ich beschloss, dass die Glaskünstlerin in Kapitel 2 einen Leuchtturm bauen sollte, in Kapitel 4 würde er zusammenbrechen, in Kapitel 8 würde das Fossil zum Leben erwachen … Bald umfasste mein Plot 50 Seiten, und ich fühlte mich wie eine Göttin! Ich erschuf eine Welt und bestimmte über Leben und Tod. Ich war allmächtig!

 

Und dann ging irgendetwas schief. Jedes Mal, wenn ich von einem Spaziergang zurückkam, hatten die Figuren angefangen, meine Pläne umzuschreiben. Sie saßen auf der Tastatur und riefen mir entgegen: Deine Pläne für Kapitel 2 und 4 und 8 sind Quatsch. Und im Übrigen haben wir uns jede Menge Nebenhandlungen ausgedacht, die auch noch in dein Buch müssen.

Am Ende hatte ich Hunderte Seiten voller Ideen, aber keinen einzigen Satz geschrieben!

Doch dann, in einer finsteren Januarnacht, begann ich endlich zu schreiben. Nach einer Woche hatte ich anderthalb Kapitel in nobelpreiswürdigem Deutsch und dachte: „Wahnsinn! An Ostern bin ich wohl fertig, dann erscheint das Buch und ich werde reich und berühmt.“ Also schickte ich den Text ein paar Testlesern. Und die wurden ganz verwirrt von meinen zehn Hauptfiguren, und die Handlung begriffen sie überhaupt nicht.

Ein paar Tage lief ich weinend herum, und meine zehn Hauptfiguren saßen auf der Tastatur und ließen die Köpfe hängen. Und im Februar strich ich die Hälfte von ihnen und begann von vorn. Ich schrieb wieder anderthalb Kapitel und fand selbst, dass ich das Ganze jetzt im Griff hatte. Die Testleser sagten, der Text sei jetzt besser.

Doch dann las ich das Ganze selbst noch einmal und fand, dass irgendetwas ganz und gar nicht stimmte. Der Text drückte nicht den Kern dessen aus, was ich gern sagen wollte. Wenn ich die Botschaften, die mir vorschweben, wirklich vermitteln will, muss ich wohl noch mehr Nebenhandlungen und eine Hauptfigur streichen.

Inzwischen arbeite ich an der dritten Version meiner ersten Kapitel. Nun glaube ich nicht mehr, dass Autoren allmächtige Schöpfer sind. Einen Roman zu schreiben, das ist mehr, als würde man die Entstehung der Kreidefelsen beobachten. Jede Menge winziger Ideen werden geboren und sterben ab, sie sinken auf den Meeresboden und werden zusammengepresst, sie tauchen wieder auf, strahlen in der Sonne und fallen in sich zusammen. Und der ganze Prozess dauert Millionen Jahre.

 

Trotzdem bin ich überglücklich, dass ich letztes Jahr im August hierherkam, um fünf Tage Urlaub zu machen. Ich habe einen Ort gefunden, an dem ich mein Leben verbringen will, und Vivi und Uffe haben mich willkommen geheißen, gemeinsam mit vielen anderen freundlichen Menschen hier auf Møn. Deshalb bleibe ich hier auf dem Bakkegaard wohnen, denn das war das Beste, was ich in meinem ganzen Leben gemacht habe: Ich kam hierher, saß auf einem Stein an den Kreidefelsen und versuchte nicht, schnell weiterzukommen.

Danke, dass ihr mir Gesellschaft geleistet habt!