Carmen lernt wieder lachen

Im Januar habe ich am Schreibwettbewerb „Die Kunst der Einfachheit“ teilgenommen. Das Thema war frei wählbar, doch sollte die Geschichte in Leichter Sprache verfasst sein. Klare Sätze, allgemein verständliche Wörter, nicht zu viele Ideen in einem Absatz, so dass die Texte auch für Menschen mit Lernschwierigkeiten u. Ä. geeignet sind. Mehr über die Hintergründe findet ihr in meinem Blogeintrag vom 31.1., mehr über Leichte Sprache zum Beispiel hier: www.leichtesprache.org.

741 Texte wurden eingereicht. Die schlechte Nachricht: Meine Geschichte ist nicht in die Endauswahl gekommen. Die guten Nachrichten: Ich habe viel dabei gelernt – und ihr könnt meine Geschichte jetzt sofort online lesen.

Sie beruht auf einer wahren Begebenheit, die ich im März schon in „schwerer Sprache“ beschrieben habe: Wie ich nach Møn kam, um zu schreiben.

Ich widme diese Geschichte meinem Vater, der heute 72 Jahre alt geworden wäre.

 

Carmen lernt wieder lachen

Carmen steht oben an der Treppe.
Sie weint.

Die Treppe ist sehr lang.
Sie führt durch einen Wald.
Sie führt nach unten zum Strand.

Carmen will gerne zum Strand.
Alle sagen:
Dieser Strand ist wirklich schön.

Aber der Fuß von Carmen tut weh.
Sie geht an Krücken.

Sie will den Strand trotzdem sehen.
Sie muss die Treppe runter.

Die Treppe ist sehr lang.
Carmen geht und geht.
Ihr Fuß tut weh.
Sie macht eine Pause.

Carmen sieht nach unten.
Viele Menschen gehen auf der Treppe.
Sie haben gesunde Füße.
Sie gehen schnell.
Sie lachen.

Carmen denkt:
Ich schaffe das nicht.
Aber sie nimmt ihre Krücken.
Sie geht weiter.
Die Treppe ist wirklich sehr lang.
Carmen geht und geht.
Sie macht noch eine Pause.
Sie sieht nach unten.
Sie sieht keinen Strand.

Carmen weint.
Ihr Fuß tut weh.
Gehen ist zu schwer für sie.

Leben ist zu schwer für sie.
Der Papa von Carmen ist tot.
Das tut sehr weh.
Noch mehr als der Fuß.

Carmen weint weiter.
Sie will auch tot sein.
Sie macht ganz lange Pause.
Sie sieht nach unten.
Sie will nicht mehr gehen.

Da hört sie etwas Schönes:
Ein Vogel pfeift im Wald.
Carmen sieht nach oben.

Der Wald ist groß.
Die Sonne scheint.
Die Bäume leuchten grün.
Der Boden ist ganz weiß.
Dieser Wald ist wirklich schön.

Der Vogel pfeift wieder.
Der Papa von Carmen konnte auch gut pfeifen.
Der Vogel fliegt weg.
Carmen denkt:
Der Vogel fliegt zum Strand.
Carmen nimmt ihre Krücken.
Sie geht weiter.

Die Treppe ist immer noch lang.
Carmen geht und geht.
Sie macht viele Pausen.
Sie sieht nicht nach unten.

Sie sieht auf den Wald.
Der Wald ist schön.
Der Vogel ist weg.
Aber Carmen hört jetzt die Wellen.

Die Treppe ist zu Ende.
Carmen kommt zum Strand.
Sie setzt sich auf einen großen Stein.
Sie freut sich ein bisschen.
Sie hat es geschafft.
Der Wald war schön.

Aber der Fuß von Carmen tut weh.
Ihr Papa ist tot.
Carmen weint schon wieder.
Sie will auch tot sein.
Sie sieht nach unten.

Viele Menschen kommen.
Alle wollen den schönen Strand sehen.
Carmen sieht ein Kind.
Es spielt mit seinem Papa.
Der Papa sagt zu dem Kind:
Ich habe dich lieb!
Carmen sitzt auf dem großen Stein.
Sie ist kein Kind mehr.
Aber der Papa von Carmen hatte sie lieb.
Er hat ihr viel geholfen.
Er hat mit ihr gesungen.
Er konnte gut pfeifen.
Carmen hat viel gelacht.

Jetzt ist alles anders.
Ihr Papa ist tot.
Carmen hat viel geweint.
Sie kann nicht mehr lachen.

Carmen denkt:
Papa darf nicht tot sein.
Er soll immer da sein.

Alle sollen immer leben.
Alles soll immer gleich bleiben.
Nichts darf anders werden.

Ich verbiete es.
Ich mache nicht mehr mit.

Carmen sitzt auf dem großen Stein.
Sie sieht nach unten.
Sie weint.

Das Kind kommt zu ihr.
Das Kind sagt zu Carmen:
Du musst doch nicht weinen!
Guck mal, da!
Der Strand ist schön!

Carmen sieht nach oben.
Der Strand ist sehr groß.
Schwarze Steine liegen am Boden.

Die Sonne scheint.
Die Steine glänzen.
Das ist schön.

Eine Welle rollt über die Steine.
Die Welle rollt wieder weg.
Die Steine glänzen noch mehr.
Auch das ist schön.

Eine Wolke kommt vor die Sonne.
Die Steine sind jetzt grau.
Carmen findet:
Auch das ist schön.

Der Strand ist immer anders.
Mal schwarz, mal glänzend, mal grau.
Er bleibt nie gleich.
Und das ist das Schönste.

Carmen sieht auch weiße Steine.
Ein paar weiße Steine sind sehr groß.
Sie leuchten in der Sonne.

Carmen fasst die weißen Steine an.
Sie sind nass.
Carmens Hand wird weiß.

Sie merkt:
Die weißen Steine sind aus Kreide.

Die Kreide-Steine sind weich.
Das Kind bricht ein Stück davon ab.
Es malt mit der Kreide.
Es malt ein Gesicht auf den schwarzen Strand.
Dann ist das Kreide-Stück nicht mehr da.
Aber das Gesicht lacht.

Carmen freut sich.
Sie denkt:
Das Kreide-Stück ist nicht mehr da.
Aber etwas Neues ist an den Strand gekommen.
Ein lachendes Gesicht.

Papa ist nicht mehr da.
Wie das Kreide-Stück.
Aber ich bin da.
Und ich lache jetzt auch.
Wie das Gesicht aus Kreide.

Ein kleiner Stein fällt aus der Luft.
Carmen sieht nach oben.
Sie staunt:
Ein großer Felsen steht hinter ihr!

Der Felsen ist hoch wie der Himmel.
Er glänzt in der Sonne.
Er ist weiß wie die Wolken.
Er ist ganz aus Kreide.

Manche Teile vom Felsen sind rund.
Manche Teile vom Felsen sind spitz.
Es gibt Löcher und Zacken.
Der Felsen ist schön wie eine Krone.
Wie eine Krone aus Kreide.
Noch ein kleiner Stein fällt aus der Luft.
Carmen sieht:
Der Stein ist aus Kreide.
Der Stein ist vom Felsen abgebrochen.

Weiße Steine liegen überall am Strand.
Sie sind alle vom Felsen abgebrochen.
Der Felsen hat Löcher und Zacken.
Der Felsen ist schön wie eine Krone.
Weil Steine abbrechen.

Der Felsen bleibt nie gleich.
Viele Stücke brechen ab.
Viele Stücke sind nicht mehr da.
Aber etwas Neues ist gekommen.
Der Felsen sieht jetzt aus wie eine Krone.
Das ist schön.

Carmen denkt:
Dinge dürfen anders werden.
Neue schöne Dinge kommen.

Papa ist tot.
Das ist traurig.
Alles ist jetzt anders.
Aber ich verbiete es nicht mehr.
Ich mache wieder mit.
Neue schöne Dinge kommen.

Carmen sieht nach oben.
Bäume wachsen auf dem Felsen.
Das ist der schöne Wald.
In dem Wald ist die lange Treppe.
Die Treppe ist so hoch wie der Felsen.
Carmen geht nach oben.
Ihr Fuß tut nicht mehr weh.
Sie freut sich auf ihr neues Leben.
Der Vogel pfeift.
Und Carmen lacht.

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Woher kommt diese Geschichte?

Carmen Wedeland hat diese Geschichte geschrieben.
Carmen Wedeland wohnt auf einer Insel.
Die Insel heißt Møn.

Die Insel hat einen schönen Wald.
Und einen großen Strand.
Und Felsen aus Kreide.
Wie eine Krone.

Carmen geht oft zu den Kreide-Felsen.
Die Treppe ist lang.
Aber Carmen weint nicht mehr.
Sie lacht.

 

 

4 Gedanken zu “Carmen lernt wieder lachen

  1. Deine Geschichte wirkt durch die Verwendung leichter Sprache noch berührender und ist einfach wunderschön, finde ich!
    Schade, dass sie nicht in die Endauswahl gekommen ist.

    Liebe Grüße
    Manu

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  2. heute wieder gelesen
    an Ado gedacht und an seine tochter
    die große trauer über den tod seiner frau
    über den verlust der mutter für das mädchen
    und hab auch gleich geweint,

    morgen wird sie verabschiedet
    aber ihre seele fliegt
    ihr körper ist frei

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