Der 16-Strände-Sommer

Sommer, Sonne … Saisonarbeit. Das waren meine Aussichten im April 2016. Ich beschloss, das ein wenig zu optimieren: Sommer, Saisonarbeit und 16 Strände! Wozu wohne ich schließlich auf einer Insel und jobbe auf der Nachbarinsel?

Kommt mit mir auf Foto-Entdeckungsreise durch Møn und Sydsjælland (Süd-Seeland). Oder noch besser, kommt persönlich hierher! Die Karte am Ende zeigt, wo die Strände zu finden sind. Und sie lässt ahnen, dass ich nächsten Sommer nochmal 16 Strände dranhängen kann 🙂

Update, 31.08.17:
Ein Jahr später war ich wieder viel am Meer:
Der Sieben-Strände-Sommer

Im Land der Elfen

In dieser Woche ist Mittsommer, Sommersonnenwende. In Dänemark feiert man sie an Sankt Hans Aften, dem Vorabend von Johanni.  Die Nächte sind licht, man zündet große Feuer an, und viele sagen, dass nach Einbruch der Dämmerung die Elfen an die Oberfläche kommen und auf den Wiesen tanzen.

Gegenüber von meinem Fenster liegt ein alter Steinwall, dahinter erstreckt sich ein langes Feld. Schon oft habe ich am Schreibtisch gesessen und überlegt, was für eine Welt sich zwischen den Steinen, unter dem Korn verbirgt. Ich glaube, dort wohnen die Elfen, und in Nächten wie diesen kommen sie heraus und tanzen im Mondschein. Heute tun sie das ganz sicher, denn es ist Vollmond. Ich bin in der Dämmerung hinausgegangen und habe sie eingeladen, in die Welt der Menschen, in unseren Garten und auch in meine Bücher.

Abendausblick Bakkegaard Møn

Wenige Glückliche können aus unserer Welt in die Welt der Elfen gelangen. Unsere Hofkatze zum Beispiel. Sie ist vor gut einem Jahr verschwunden. Ich hatte sie davor öfter am Steinwall gesehen und bin mir sicher, sie ist nun bei den Elfen. Unter dem Feld feiern sie das ganze Jahr Feste, der Katze geht es dort gut.

Im Gespräch zwischen dem Steinwall und mir, angestoßen von der neugierigen Katze, entstanden letztes Jahr auch die ersten Kapitel eines Kinderbuches. Es ist ein Versuch, mal etwas ohne Plan zu schreiben, ohne ständiges Verbessern, einfach nur dem folgend, was ich um mich herum spüre und sehe. Die Geschichte beginnt direkt vor meinem Fenster:

Merle und Lisa im Land der Elfen

Wenn es regnet, werden die Steine auf der anderen Straßenseite durchsichtig.
Die graurote Oberfläche verschwimmt, und es erscheinen Zeichen und Schriften, Spalten und kleine Türen in eine andere Welt.
Wer weiß, in welche Spalten er greifen muss, der kann den richtigen Stein öffnen und einsteigen, in die Welt der Elfen, in das Land der Anderen, die unter dem Feld wohnen, das der Steinwall zur Straße hin abschließt. Die Katze kennt diese Welt, sie braucht keine Spalten zu öffnen, sie kann auch so durch die nassen Steine schlüpfen und die Elfen besuchen, die sie streicheln und ihr vorsingen und ihr von dem Beerensaft zu trinken geben, der den Bauch so schön wärmt. Dann schläft sie eine Nacht und einen Tag, und dann kehrt sie zurück ins Leben. Zurück in ein neues Leben, denn als Katze hat man sieben davon, da kann man auch zwei oder drei Leben bei den Elfen lassen, wenn man dafür warmen Beerensaft bekommt.
Aber Menschen finden den Weg nicht so leicht, und wenn sie ihn gefunden haben, kehren sie nicht mehr zurück.
Außer Merle. Merle fand den Weg zu den Elfen, und sie kehrte auch wieder zurück. Doch sie war eine Andere geworden, und sie sah die Welt danach anders, und nicht nur bei Regen.

Vielleicht flüstern mir die Elfen heute ein, wie es weitergeht.
Wenn sie fertig getanzt und gefeiert haben.
Viel kann geschehen in diesen magischen Nächten.

In diesem Sinne – mittsommerliche Grüße aus Møn!

Ich werde immer integrierter

Vor gut einem Jahr stellte ich fest, dass ich allmählich in Dänemark angekommen bin – erkennbar u. a. an meinen Heringsvorräten, meinem Kaffeekonsum und meinem fließenden IKEA-Dänisch. Inzwischen hat sich die Lage zugespitzt.

Dänemark Lakritzbacon

Lakritz-Bacon im dänischen Supermarkt

Essenskultur

Finde es ganz normal, dass in der Butter Salz ist und in allem anderen Lakritz.

Kaufe koldskål med kammerjunkere, sobald die Temperaturen im Plusbereich liegen. Eine leckere kalte Buttermilchsuppe für den Sommer!

Dänemark Nyord Flohmarktkatze

Wieder eine, die nur fotografiert und nix kauft. Nåå.

Sprache

Sage ständig Nååååå. Werde das auch im Deutschen einführen. Sprecht mir nach: Ein sanft angesetztes N, danach ein tiefes, kurz abfallendes, dann vorsichtig ansteigendes, bedrohlich knirschendes und doch immer butterweiches offenes O. So wie das O in „Groll“, nur lang, damit man alle Bedeutungsnuancen auskosten kann:

„Du isst diesen langweiligen Bacon? Willst du nicht noch mal drüber nachdenken? Der Bacon mit Lakritz ist viel besser.“
Nåååååååååå?, extralang, bohrender Nachhall.
„Hm. Dann ist dir wohl nicht zu helfen.“
Nåå!, leicht und knapp, wie ein innerliches Fallenlassen.
„Echt jetzt? Ihr lebt ohne dieses Wort? Wie geht das?“
Nå?!, extrakurz, steil hochschwingend, dabei Augen aufreißen.

Bemerke immer mehr, wie kompliziert wir Deutschen denken und reden.

Deutsch: Sehr geehrte Damen und Herren …
Dänisch: Gar keine Anrede, wenn man den Angeredeten nicht kennt.
Deutsch: Ich lade dich auf ein Stück Kuchen ein.
Dänisch: Jeg giver kage.
Deutsch: Komisch, da war doch was. Hat sie nicht erst vor einem Jahr über das gleiche Thema geschrieben?
Dänisch: Nåååååååååå?

Teilhabe am gesellschaftlichen Leben

Dänemark Münzen

Leider reichen ein paar löchrige Münzen dem Steuerwesen nicht mehr.

Habe zum ersten Mal in Dänemark Einkommensteuer bezahlt. Sehe auch schon kommen, dass das nicht das letzte Mal war.

Beginne das dänische Mehrwertsteuergedöns zu kapieren. Das sich nur in Details vom deutschen Mehrwertsteuergedöns unterscheidet. Die dich Jahre deines Lebens kosten.

Bin jetzt Vorstandsmitglied im Glasfaserverein unseres Dörfchens und schreibe komplizierte Protokolle in fragwürdigem Dänisch.

Neben Technik und Dänisch ist Sport meine große Stärke: Bin zu den hiesigen Olympischen Spielen eingeladen worden.

Na gut, diese Olympischen Spiele sind das Sommerfest der Nachbarn, mit Axtweitwurf und Scheunenstaffellauf für die Kinder. Werde mich abends zum Grillen dazugesellen.

Ortskenntnis

Habe fast jedem Baum im Kliffwald die Hand geschüttelt. Mache mich nun daran, alle Inselstrände abzuschreiten.

5000 Jahre dänische Geschichte. An der Spitze ich: Kong Asgers Høj auf Møn

5000 Jahre dänische Geschichte. An der Spitze ich: Kong Asgers Høj auf Møn

Sowas zahlt sich aus! Habe den Auftrag bekommen, Infotexte für einen neuen Wanderweg rund um Møn zu übersetzen. Unter anderem mit der Begründung, man wolle eine „Einheimische“ für diese Arbeit.

Treffe beim Einkaufen immer irgendwen, den ich kenne.

Kriege das Geschehen in Deutschland kaum noch mit. Das in Dänemark allerdings auch nicht. Schwebe glücklich im Nirwana.

Achtungsbezeugungen

Würdige jeden Stein und jeden Grasbuckel, jeden Zaunkönig, jedes Leberblümchen. Die ganz alltägliche Natur: in Liedern besungen, beim Morgenkaffee besprochen, auf Facebook gepostet.

Immer hereinspaziert: dänische Flagge im Kalvehave Labyrintpark auf Südseeland

Immer hereinspaziert: dänische Flagge im Kalvehave Labyrintpark

Bin ganz überrascht, wenn deutsche Kirchenlieder nur acht Strophen haben und man davon höchstens vier singt. In Dänemark zieht man vierzehn Strophen durch. Jeder Vogel und jedes Blümchen hat seine eigene.

Beginne die Arbeitstage in meinem Sommerjob damit, die dänische Flagge zu hissen. Wichtig: Bis an die Spitze, nicht so halbmastmäßig wie bei meinem ersten Versuch. Sonst denken meine Arbeitgeber vom Labyrinthpark in Kalvehave, jemand sei in ihrem Irrgarten verendet.

 

Update, März 2017: Ich werde noch ein bisschen integrierter 🙂
Update, Januar 2018: Ich werde weiter integriert!

Vier Dinge, die Dänemark und China gemeinsam haben

Nun lebe ich bald zwei Jahre in Dänemark, auf meiner idyllischen Insel Møn. Ebenso lange habe ich in China gewohnt, in der aufregenden Hauptstadt Peking. Zwei Länder und Kulturen, die auf den ersten Blick nicht unterschiedlicher sein könnten. Hier nur ein paar augenfällige Gegensätze:

  • Dänemark hat eins der winzigsten Wahrzeichen der Welt – die kleine Meerjungfrau in Kopenhagen, übersichtliche 125 cm hoch. Das größte chinesische Wahrzeichen ist vom Weltraum sichtbar: Die 20.000 km lange chinesische Mauer.
  • Dänemark hat nicht einmal sechs Millionen Einwohner, China über 1,3 Milliarden. Oder etwas plakativer: Allein in Shanghai wohnen dreimal so viele Menschen wie im ganzen Königreich.
  • Dänen legen Wert auf hygge – das traute Beisammensein mit Familie und Freunden, zum Beispiel beim Urlaub im eigenen Sommerhaus. Chinesen lieben renao – den Trubel in der Masse, zum Beispiel bei der Gruppenbusreise zu überlaufenen Sehenswürdigkeiten oder beim Karaokeabend im belebten Szeneviertel.

Und vieles, vieles mehr …

Dennoch, nach längerem Beobachten stelle ich fest: Es gibt überraschende Verbindungen zwischen diesen weit voneinander entfernten Kulturen.

Wohlfühl-Besprechungen
Wo viele Deutsche nach systematischer Diskussion eine Liste mit Ergebnissen und To Do’s anstrebt, tasten sich Dänen und Chinesen eher behutsam voran: Wie könnte die Stimmung in der Runde wohl sein? Nach zwanzig Minuten losem Gespräch vertagt man sich auf nächstes Mal, wo die Gedanken noch einmal unverbindlich aufgegriffen werden, bis sich fünf Minuten vor Abgabetermin/Veranstaltungsbeginn/Losfahren eine Aktion herauskristallisiert. Ausländerinnen, die das nervös macht, sollten meditieren lernen oder sich vorher einen kleinen Baijiu/Gammeldansk genehmigen. (Allerdings … die schwammigsten Besprechungen meines Lebens habe ich in Deutschland erlebt, die effizientesten in Dänemark.)

Peinsame Pünktlichkeit
Gebt zu, ihr wart von den vagen Besprechungen eingelullt – und dachtet, bei einer privaten Verabredung seien fünf Minuten Spielraum drin! Vergesst es. Haargenau zur abgesprochenen Zeit steht der Däne mit laufendem Motor an der Straße und erwartet dich. Die Chinesin toppt das noch, sie steht da schon längst in deinem Wohnzimmer – um nicht unhöflich zu sein, ist sie eine Viertelstunde vor der verabredeten Zeit erschienen.

Namen für die Familie
Dänisch und Chinesisch offenbaren in manchen Ausdrücken eine Weltsicht, die deutschen Muttersprachlern fremd ist. Zum Beispiel ist Opa nicht gleich Opa. Geht es um den Vater der Mutter oder des Vaters? Ist für diese Kulturen etwas völlig Unterschiedliches, kann man doch nicht gleich nennen! Der Vater der Mutter heißt auf Dänisch morfar, auf Chinesisch waigong; der Vater des Vaters heißt dagegen farfar bzw. yeye.

Familiennamen und Vornamen
Verglichen mit Deutschland, trifft man in China und in Dänemark auf erstaunlich wenige Nachnamen. Jeder fünfte Chinese heißt Wang, Li oder Zhang. Mindestens jeder siebte Däne heißt Jensen, Nielsen oder Hansen. (Nur etwa jeder zwanzigste Deutsche heißt Meier, Schmidt, Müller oder eine Variante davon). – Wie vermeidet man nun, dass Millionen Einwohner komplett gleich heißen? Sowohl Chinesen als auch Dänen sind auf kreative Lösungen gekommen: Bei den Chinesen kann man Vornamen frei erfinden, glücksbringende Kombinationen und seltene Schriftzeichen bringen Pluspunkte. Die Dänen kombinieren lieber zwei bis drei gebräuchliche Vornamen mit einer Handvoll Zwischen- und Familiennamen. Hej, Alberte Pernille Skov Krarup Madsen, wie läuft’s denn so?

Ich bin froh, dass ich diese beiden Länder und ihre Kulturen kennen lernen durfte. Mit der Zeit werden mir sicher noch weitere Gemeinsamkeiten auffallen. Dinge, in denen sich Chinesen und Dänen überraschend einig sind. Und Dinge, die nur Deutschland überraschend merkwürdig handhabt 🙂

 

Die Schönheit des Augenblicks

Ich glaube, jetzt ist wieder eine große Dosis Fotos fällig.

Es gäbe so viel Kritisches zu sagen, so viel Wichtiges zu schreiben, so viel Dringendes zu tun. Doch heute bin ich müde, vielleicht weil die Nächte länger werden und der Sommer vorbei ist. In den letzten Tagen gab es viele gute Begegnungen, und ich habe einiges geschafft, worauf ich stolz bin. Anderes habe ich vernachlässigt, was ich bedaure. Und immer wieder heißt es Abschied nehmen, von lieben Menschen, von Orten und Dingen, die einmal wichtig waren, vom Traum einer heilen Welt.

Alles ist flüchtig.

Wir haben nur den Augenblick, in dem wir gerade sind.

Und dieser Augenblick ist oft wunderschön – wenn wir dafür empfänglich bleiben, uns nicht mit Sorgen und Grübeln und Bedauern zuschütten, so dass uns selbst der vollkommenste Moment entgleitet.

Ich bin dankbar für die vielen wundervollen Augenblicke, die ich dieses Jahr wieder auf meiner Trauminsel und anderswo erleben durfte. Neben lieben Menschen und kreativen Spielereien ist es besonders die Natur, die mich immer wieder glücklich macht, der lichte Buchenwald im Frühling, tiefblauer Himmel über den Kreidefelsen, das Gesumme in der Böschung, der sonnengroße Mond gestern Nacht über der Straße.

Eine Auswahl dieser Naturmomente möchte ich heute mit euch teilen:
50 Fotos von der Insel Møn, Januar bis September 2015.

P. S. Ja, diesmal alles hochkant. 120 Møn-Bilder im Querformat findet ihr im Beitrag „Nur schnell ein paar Fotos“ vom Januar 2015.

Update: Inzwischen gibt es noch mehr Momentaufnahmen aus Møn.
Update 2: Nochmal hundert bunte Inselbilder.
Update 3: Wieder 99 Naturaufnahmen.
Update 4 bis x:
75 Frühsommerfotos
93 Dänemark-Bilder
22 Winter-Visionen

Eine Saison im „Sommerhaus“

Anfang Juni begann auf Møn der Sommer. Die Sonne schien Tag und Nacht, es wurde warm, die ersten Touristen rollten heran. Ja, die Sonne schien wirklich Tag und Nacht – in den „Weißen Nächten“ von Juni bis August geht sie nur knapp unter, ein Streifen Licht zieht sich auch nach Mitternacht über den nördlichen Horizont. Und ja, es wurde wirklich warm – erst 20 Grad, später 27, nicht so schwül wie letztes Jahr, sondern genau richtig, um mittags am Strand zu liegen und abends mit einem Glas Wein auf der Wiese zu sitzen. Ich erwähne das nur, weil ich öfter besorgte Anfragen bekomme, ob ich so hoch im Norden nicht erfriere und ob ich nicht gern etwas von den Temperaturen im Süden abhätte. Nej tak – behaltet eure Hitzewellen für euch – nur ein wenig Schnee für den Winter dürft ihr gern schicken!

Anfang Juli begannen dann die dänischen Sommerferien. Sechs Wochen (weitgehend) schönes Wetter, sechs Wochen Ausnahmezustand! Mein Eindruck ist: Alle Dänen machen gleichzeitig Urlaub, natürlich abgesehen von denen, die in Hotels und Sehenswürdigkeiten schuften. Die meisten Dänen verbringen zumindest einen Teil dieses Urlaubs in ihrem Sommerhaus. Idyllisch gelegen, oft liebevoll ausgestattet und gerne auf einem Inselchen – es geht darum, der Stadt zu entfliehen (jeder fünfte Däne wohnt im Ballungsraum Kopenhagen).

Der Weiler, in dem ich wohne, besteht aus zwei oder drei ganzjährig bewohnten Häusern und dreimal so vielen Sommerhäusern. Viele sind mit Reetdach gedeckt, am Zaun blühen die Rosen, und Kinder verkaufen Eis oder Saft an vorbeifahrende Touristen. Die Familie grillt im Garten oder wühlt in den Beeten, und es gibt immer etwas instandzusetzen. Sehr liebevoll haben das zum Beispiel die Nachbarn gemacht, zu deren Sommerhauseinweihung im Juli das ganze Dorf eingeladen wurde – schöne Fotos (und netten dänischen Text) gibt es auf ihrem Sommerhausblog.

Da ich mich ja fleißig in Dänemark integriere, habe auch ich die letzten Wochen in meiner Sommerresidenz verbracht. Idyllisch mit Blick auf Feld und Wald, hübsch dekoriert mit Blumenbildern und angenehm pflegeleicht – das Einzelzimmer auf dem Bakkegaard, in dem meine Geschichte auf Møn begann. Knappe acht Quadratmeter mit lauschiger Dachschräge boten Platz für ein Bett, einen Schreibtisch, ein Fenster mit Ausblick, einen schmalen Schrank, ein Waschbecken und allerhand Krimskramsbehälter. Ich habe noch immer viel zu viel Zeug! Davon abgesehen, war das Wohnen aber entspannt: Staubsaugen lohnte kaum, alles war immer griffbereit, vom Bett aus konnte ich die Kaffeemaschine und den Computer anschalten. Und morgens wurde ich vom Duft frisch gebackenen Brotes begrüßt – da kommt man nochmal lieber zum Küchendienst 🙂

Seit gestern wohne ich nun wieder in meiner Luxuswohnung einen Gebäudeflügel weiter (38 Quadratmeter, den Sommer über an Touristen vermietet). Statt glücklicher Gäste befasse ich mich ab jetzt hauptsächlich mit rätselhaften Romanfiguren, vom Bett zur Kaffeemaschine sind es über zehn Schritte, und sechs Meter Schreibtisch wollen ausgiebig abgestaubt werden. Es wird stiller werden auf Møn, im tiefen Winter wundert man sich, wenn einmal am Tag ein Auto am Haus vorbeifährt.

Im Frühjahr putzt sich die Insel dann langsam für die neue Saison heraus – ich freue mich schon!

Ich werde integriert

Die Anzeichen mehren sich, dass ich allmählich in Dänemark angekommen bin.

Essenskultur

Sieben Sorten Hering. In der Mitte Pommes: Damals hatte ich noch keine Ahnung von Esskultur

Sieben Sorten Hering. In der Mitte Pommes: Damals hatte ich noch keine Ahnung von Esskultur

Habe begriffen, dass Hering zu jedem Mittagessen gehört.
Habe stets mehrere Sorten Hering im Kühlschrank.
Habe begriffen, dass man den Hering nicht auf Weißbrot, sondern auf Schwarzbrot isst, das Weißbrot ist für den Lachs da. (Was ich heimlich zu Hause mache, steht auf einem anderen Blatt.)
Ärgere mich über deutsche Supermärkte ohne meterlange Lakritz-Selbstmischbatterie.
Frage mich, wie ich 40 Jahre ohne Lakritztee ausgekommen bin.
Überlege, Lakritzpulver anzuschaffen.
Trinke morgens, mittags, nachmittags und abends Kaffee.

Natur, Landschaft, Wetter

Gipfelsieg auf Møn, 135 Meter über dem Meeresspiegel

Gipfelsieg auf Møn, 137 Meter über dem Meeresspiegel

Finde, dass der hiesige Aussichtshügel den Namen „Königsberg“ verdient.
Finde 25 Grad im Sommer unglaublich heiß.
Bin ganz aus dem Häuschen, wenn es im Winter schneit.
Halte das Festland für weit ab vom Schuss und die dänischen Inseln für den Nabel der Welt.
Kann gar nicht glauben, dass man in Deutschland vier Stunden Auto fahren kann und bloß von Frankfurt nach München kommt. In Dänemark ist man nach vier Stunden Autofahrt an der deutschen Grenze oder der Brücke nach Schweden. Oder ins Meer gefallen. Oder im Kreis gefahren.

Teilhabe am gesellschaftlichen Leben

Bekomme endlich auch dänische Spam-Mails.
Bin gleich nach meiner behördlichen Anmeldung vom nächstgelegenen Krankenhaus eingeladen worden, mich auf Gebärmutterhalskrebs untersuchen zu lassen.
Bin außerdem sofort von der Steuerbehörde nach meiner Kontonummer gefragt worden.
Singe im Chor Liebeserklärungen an den dänischen Sommer samt sanften Wiesen, flatternden Flaggen und blauäugigen Mädchen.
Finde, dass Chorproben ohne Kaffee und Kuchen gar nicht gehen, genauso wenig wie Gottesdienste, Vorträge, Schlussverkäufe, Jahreshauptversammlungen und Autofahrten ab 20 km. Sollten zu derlei Veranstaltungen Protokolle geschrieben werden, ist vor oder spätestens direkt nach Aufzählung der Anwesenden zu notieren, mit was besagte Anwesende verpflegt wurden.

Sprache

Brauchte ich unbedingt für meine Schreibwerkstatt. Vor allem wegen der schönen Tasten unten rechts.

Brauchte ich unbedingt für meine Schreibwerkstatt. Vor allem wegen der schönen Tasten unten rechts.

Spreche inzwischen nicht nur Dänisch mit deutschen Einschlägen, sondern auch Deutsch mit dänischen Einschlägen.
Kann mit etwas Glück Festlanddänen und Inseldänen an der Aussprache unterscheiden.
Kann IKEA auf Dänisch navigieren (Billy = Billy, Mitnahmebereich = Ta‘ Selv Lager usw.).
Kann auf Dänisch fluchen. (For helvede.)
Weiß fast ohne nachzudenken, dass halvtreds = 50, tres = 60, halfjerds = 70, firs = 80 und halvfems = 90. (For satan.)
Verwechsle beim Schreiben am Computer oft ö und ä, weil bei dänischer Tastaturbelegung æ und ø genau andersherum liegen. (For pokker.)

Festlichkeiten

Kann die erste Strophe eines beliebten dänischen Geburtstagsliedes auswendig singen und bei den übrigen dreien so tun.
Habe zu Johanni am Lagerfeuer gestanden und eine Rede gehalten.
OK, eher abgelesen.
Aber selbst verfasst und auf Dänisch.
Habe dem Hofwichtel im Advent Süßigkeiten hingestellt.
Habe eine dänische Weihnachtsfeier samt Hering, Lachs, Milchreis, ca. 25 anderen Gerichten, Bier, Schnäpsen und Gesang überstanden. (Und es war gut.)
Bin mit einer dänischen Familie samt Kind und Hund um den Weihnachtsbaum getanzt.

Update, ein Jahr später: Ich werde immer integrierter.
Update, wieder ein Jahr später: Ich werde noch ein bisschen integrierter.
Update, nochmal fast ein Jahr später: Ich werde weiter integriert.

Zu Hause – wo?

Bei der Chorprobe erzählte ich, ich würde die nächsten Tage meine Schwester in Deutschland besuchen.
„Nå, skal du hjem?“, sagte mein Mitsänger.
„Du fährst nach Hause?“
Ich war ganz verwirrt.

Meine Schwester ist vor vier Jahren in eine Stadt gezogen, die ich erst nach und nach kennenlerne. Nach Nordhein-Westfalen, in einen schönen Landstrich. Schön, aber nicht mein Zuhause.

Ich wohne seit über einem Jahr in Dänemark, auf meiner Trauminsel Møn. Es begann mit einer Auszeit, die länger und länger wurde, bis ich letzten Sommer beschloss zu bleiben. Ich sprach mit meinen Vermietern, meldete mich ordentlich an und verzierte mein Auto mit dänischen Nummernschildern. (Sind auch nicht hübscher als deutsche, aber sie waren sehr teuer, und mein Auto ist mächtig stolz darauf.)

„Nå, skal du blive dansker nu?“, fragte mein Mitsänger.
„Wirst du jetzt Dänin?“
Ich war ganz verwirrt.

Der Gedanke war mir noch nicht gekommen. Ich schreibe und denke auf Deutsch, meine Eltern waren Deutsche, ich habe 40 Jahre in Deutschland gelebt. Ich mag Dänemark, aber mein klarer Bezugspunkt ist Møn. „Mønbo“, eine echte Inselbewohnerin, das wäre ich vielleicht gern, aber wie mir weitere Mitsänger versicherten, wird man das erst in dritter Generation und wenn man selbst auf Møn geboren ist. Letzteres ist seit der Schließung des Insel-Krankenhauses wohl verhandelbar. Aber bestimmt nicht für „Zugereiste“ wie mich.

„Zugereist“, das war ich eigentlich schon immer. Auch innerhalb Deutschlands. Die letzten 20 Jahre sogar „zuagroast“. In Passau und München war ich lange glücklich, aber war Bayern mein Zuhause? Allenfalls meine Wahlheimat. Ich kam aus Norddeutschland und war damit „Preiß“, an manchen Stammtischen auch bekannt als „Saupreiß“.

Ist Norddeutschland also mein Zuhause? Schnarup-Thumby, das Dorf mit dem unterhaltsamen Namen, Kreis Schleswig-Flensburg, wo ich aufgewachsen bin? Hier sprachen viele Platt und (gefühlt) alle waren miteinander verwandt. Nicht wir. Wir waren zugereist, als ich acht war, aus dem Kreis Rendsburg-Eckernförde und davor aus Hamburg. So weit südlich waren manche Klassenkameraden als Teenager noch nicht gekommen. Für einige hörte die Welt an der Elbe auf. Für uns ging sie immer schon weiter, denn meine Mutter kam aus Baden-Württemberg, wo meine Vettern und Cousinen Schwäbisch schwätzten, Brezeln aßen und im Sommer das Thermometer auf unerträgliche 30 Grad stieg. Mein Vater hingegen kam aus Hamburg, und als ich vorgestern aus dem Zugfenster auf die Alster sah, wurde mir ganz heimatlich ums Herz, denn als Kinder waren wir oft in der Stadt, um Verwandte zu besuchen. In meinem Ausweis steht Hamburg als Geburtsort, und in meinem Arbeitszimmer hängt der Hamburger Bürger-Eyd meines Vorfahren, der 1806 dem „Rathe“ seine Treue schwor und „40 Mark Courant“ bezahlte, um als ehrbarer Kaufmann in der Hansestadt zu leben. Also auch ein Zugereister.

Meine Mutter zitierte einmal eine andere Pastorenfrau mit den Worten: „Mein Zuhause ist, wo ich meine Koffer auspacke.“ So ähnlich muss ich das wohl sehen. Ich habe meine Koffer – und 20 Umzugskartons – auf Møn ausgepackt, und das ist jetzt mein Zuhause. Meine Wahlheimat. Hier will ich Wurzeln schlagen, weil ich das so beschlossen habe. Weil es sich richtig anfühlt, aus hundert Gründen, die mir bei meiner ersten Insel-Auszeit wie Schuppen von den Augen fielen. Aber das ist Stoff für einen weiteren Eintrag. Ich glaube, dass ich auf Møn Wurzeln schlagen kann, so wie es mir auch in München, Passau und Schnarup-Thumby und zwischendrin (um alles noch komplizierter zu machen) auch in zwei Jahren China gelungen ist. Sie reichen sicher nicht so tief wie die eines „Mønbo“ oder anderer „Ureinwohner“. Dafür bin ich mir aber sehr bewusst, warum ich dort wohnen will. Was mir diese Insel gibt.

Und was mir all die anderen Orte geben, zu denen ich Verbindung habe, die eine Zeitlang mein Zuhause waren oder wo Menschen wohnen, die mir nahestehen. Für diese Bereicherung bin ich dankbar.

Wo seid ihr zu Hause?