Bei der Chorprobe erzählte ich, ich würde die nächsten Tage meine Schwester in Deutschland besuchen.
„Nå, skal du hjem?“, sagte mein Mitsänger.
„Du fährst nach Hause?“
Ich war ganz verwirrt.
Meine Schwester ist vor vier Jahren in eine Stadt gezogen, die ich erst nach und nach kennenlerne. Nach Nordhein-Westfalen, in einen schönen Landstrich. Schön, aber nicht mein Zuhause.
Ich wohne seit über einem Jahr in Dänemark, auf meiner Trauminsel Møn. Es begann mit einer Auszeit, die länger und länger wurde, bis ich letzten Sommer beschloss zu bleiben. Ich sprach mit meinen Vermietern, meldete mich ordentlich an und verzierte mein Auto mit dänischen Nummernschildern. (Sind auch nicht hübscher als deutsche, aber sie waren sehr teuer, und mein Auto ist mächtig stolz darauf.)
„Nå, skal du blive dansker nu?“, fragte mein Mitsänger.
„Wirst du jetzt Dänin?“
Ich war ganz verwirrt.
Der Gedanke war mir noch nicht gekommen. Ich schreibe und denke auf Deutsch, meine Eltern waren Deutsche, ich habe 40 Jahre in Deutschland gelebt. Ich mag Dänemark, aber mein klarer Bezugspunkt ist Møn. „Mønbo“, eine echte Inselbewohnerin, das wäre ich vielleicht gern, aber wie mir weitere Mitsänger versicherten, wird man das erst in dritter Generation und wenn man selbst auf Møn geboren ist. Letzteres ist seit der Schließung des Insel-Krankenhauses wohl verhandelbar. Aber bestimmt nicht für „Zugereiste“ wie mich.
„Zugereist“, das war ich eigentlich schon immer. Auch innerhalb Deutschlands. Die letzten 20 Jahre sogar „zuagroast“. In Passau und München war ich lange glücklich, aber war Bayern mein Zuhause? Allenfalls meine Wahlheimat. Ich kam aus Norddeutschland und war damit „Preiß“, an manchen Stammtischen auch bekannt als „Saupreiß“.
Ist Norddeutschland also mein Zuhause? Schnarup-Thumby, das Dorf mit dem unterhaltsamen Namen, Kreis Schleswig-Flensburg, wo ich aufgewachsen bin? Hier sprachen viele Platt und (gefühlt) alle waren miteinander verwandt. Nicht wir. Wir waren zugereist, als ich acht war, aus dem Kreis Rendsburg-Eckernförde und davor aus Hamburg. So weit südlich waren manche Klassenkameraden als Teenager noch nicht gekommen. Für einige hörte die Welt an der Elbe auf. Für uns ging sie immer schon weiter, denn meine Mutter kam aus Baden-Württemberg, wo meine Vettern und Cousinen Schwäbisch schwätzten, Brezeln aßen und im Sommer das Thermometer auf unerträgliche 30 Grad stieg. Mein Vater hingegen kam aus Hamburg, und als ich vorgestern aus dem Zugfenster auf die Alster sah, wurde mir ganz heimatlich ums Herz, denn als Kinder waren wir oft in der Stadt, um Verwandte zu besuchen. In meinem Ausweis steht Hamburg als Geburtsort, und in meinem Arbeitszimmer hängt der Hamburger Bürger-Eyd meines Vorfahren, der 1806 dem „Rathe“ seine Treue schwor und „40 Mark Courant“ bezahlte, um als ehrbarer Kaufmann in der Hansestadt zu leben. Also auch ein Zugereister.
Meine Mutter zitierte einmal eine andere Pastorenfrau mit den Worten: „Mein Zuhause ist, wo ich meine Koffer auspacke.“ So ähnlich muss ich das wohl sehen. Ich habe meine Koffer – und 20 Umzugskartons – auf Møn ausgepackt, und das ist jetzt mein Zuhause. Meine Wahlheimat. Hier will ich Wurzeln schlagen, weil ich das so beschlossen habe. Weil es sich richtig anfühlt, aus hundert Gründen, die mir bei meiner ersten Insel-Auszeit wie Schuppen von den Augen fielen. Aber das ist Stoff für einen weiteren Eintrag. Ich glaube, dass ich auf Møn Wurzeln schlagen kann, so wie es mir auch in München, Passau und Schnarup-Thumby und zwischendrin (um alles noch komplizierter zu machen) auch in zwei Jahren China gelungen ist. Sie reichen sicher nicht so tief wie die eines „Mønbo“ oder anderer „Ureinwohner“. Dafür bin ich mir aber sehr bewusst, warum ich dort wohnen will. Was mir diese Insel gibt.
Und was mir all die anderen Orte geben, zu denen ich Verbindung habe, die eine Zeitlang mein Zuhause waren oder wo Menschen wohnen, die mir nahestehen. Für diese Bereicherung bin ich dankbar.
Wo seid ihr zu Hause?
Liebe Claudia, dein Eintrag hat mich sehr berührt, weil ich auch mehrere „Zu Hause“ hatte.
LikeLike
Hm, zu Hause bin ich hier, in Potsdam, aber auch wieder nicht, sondern hier und da, am Meer, in den Bergen… Ich glaube, der Sprich „Zu Hause ist, wo das Herz ist“, ist zutreffend. 🙂 Und Du folgst ja auch Deinem Herzen. Danke für das Schreiben dieses sehr interessanten Beitrags. 🙂
LikeLike
Mir geht’s ähnlich wie Dir – die Eltern scho „zuagroaste“, ich kann keinen einzigen Dialekt sprechen (weder auf norwegisch noch auf deutsch), und fühle mich so ziemlich überall und nirgends zuhause. Aber ich mach’s ähnlich wie die Freundin Deiner Mutter: Für mich ist „zuhause“ da, wo meine Katzen wohnen. Und die wohnen hier.
LikeGefällt 1 Person