Traumgedichte

Morgen beginnt der Mai. Osterglocken leuchten aus dem Nebel, es duftet nach Frühling. Eine magische Zeit: eine Vollmondnacht. Ein Zustand des Schwebens, wo man nicht weiß, ob man träumen oder dichten soll.

Für mich hängen Träume und Gedichte eng zusammen. Gedichte sind ein Versuch, etwas Unbegreifliches in Worte zu fassen. Stimmungen, Farben, Gefühle werden aus dem Unterbewussten geholt und so vielschichtig umschrieben, dass man sich immer wieder neu in ihnen verliert. Welten tauchen auf und vergehen.

Manche Gedichte begleiten mich schon seit Jahrzehnten. Immer wieder entdecke ich neue Nuancen in ihnen. Als ich mein Schlafzimmer einrichtete, habe ich einige Gedichte ausgewählt, die mit Träumen zu tun haben, mit anderen Welten und dem Schaurig-Schönen der Schöpfung. Eines Nachts habe ich sie an meine Wand geschrieben, in silberner Schrift, in welligen Linien.

Vielleicht träumt ihr heute Nacht auch von anderen Welten und fernen Zeiten. Vielleicht inspiriert euch die Vollmondnacht, ein schöne Melodie, ein geliebter Mensch. Vielleicht mögt ihr auch meine Lieblingsgedichte lesen und mit mir in meine Traumwelt abtauchen.

Clemens Brentano: Sprich aus der Ferne!

Sprich aus der Ferne,
Heimliche Welt,
Die sich so gerne
Zu mir gesellt!

Wenn das Abendrot niedergesunken,
Keine freudige Farbe mehr spricht,
Und die Kränze still leuchtender Funken
Die Nacht um die schattigte Stirne flicht:

Wehet der Sterne
Heiliger Sinn
Leis durch die Ferne
Bis zu mir hin.

Wenn des Mondes still lindernde Tränen
Lösen der Nächte verborgenes Weh;
Dann wehet Friede. In goldenen Kähnen
Schiffen die Geister im himmlischen See.

Glänzender Lieder
Klingender Lauf
Ringelt sich nieder,
Wallet hinauf.

Wenn der Mitternacht heiliges Grauen
Bang durch die dunklen Wälder hinschleicht
Und die Büsche gar wundersam schauen,
Alles sich finster, tiefsinnig bezeugt:

Wandelt im Dunkeln
Freundliches Spiel,
Still Lichter funkeln,
Schimmerndes Ziel.

Alles ist freundlich wohlwollend verbunden,
Bietet sich tröstend und trauernd die Hand,
Sind durch die Nächte die Lichter gewunden,
Alles ist ewig im Innern verwandt.

Sprich aus der Ferne,
Heimliche Welt,
Die sich so gerne
Zu mir gesellt!

Eduard Mörike: Die Geister am Mummelsee

Vom Berge was kommt dort um Mitternacht spät
mit Fackeln so prächtig herunter?
Ob das wohl zum Tanze, zum Feste noch geht?
Mir klingen die Lieder so munter.
O nein!
So sage, was mag es wohl sein?

Das, was du da siehest, ist Totengeleit,
und was du da hörest, sind Klagen.
Dem König, dem Zauberer, gilt es zu Leid,
sie bringen ihn wieder getragen.
O weh!
So sind es die Geister vom See!

Sie schweben herunter ins Mummelseetal –
sie haben den See schon betreten –
sie rühren und netzen den Fuß nicht einmal –
sie schwirren in leisen Gebeten –
O schau,
am Sarge die glänzende Frau!

Jetzt öffnet der See das grünspiegelnde Tor;
gib acht, nun tauchen sie nieder!
Es schwankt eine lebende Treppe hervor,
und – drunten schon summen die Lieder.
Hörst du?
Sie singen ihn unten zur Ruh.

Die Wasser, wie lieblich sie brennen und glühn!
Sie spielen in grünendem Feuer;
es geisten die Nebel am Ufer dahin,
zum Meere verzieht sich der Weiher –
Nur still!
Ob dort sich nichts rühren will?

Es zuckt in der Mitten – o Himmel! ach hilf!
Nun kommen sie wieder, sie kommen!
Es orgelt im Rohr und es klirret im Schilf;
nur hurtig, die Flucht nur genommen!
Davon!
Sie wittern, sie haschen mich schon!

William Wordswort: The Surface of Past Time
(The Prelude, Book Fourth, Zeile 256-276)

As one who hangs down-bending from the side
Of a slow-moving boat, upon the breast
Of a still water, solacing himself
With such discoveries as his eye can make
Beneath him in the bottom of the deep,
Sees many beauteous sights – weeds, fishes, flowers,
Grots, pebbles, roots of trees, and fancies more,
Yet often is perplexed, and cannot part
The shadow from the substance, rocks and sky,
Mountains and clouds, reflected in the depth
Of the clear flood, from things which there abide
In their true dwelling; now is crossed by gleam
Of his own image, by a sunbeam now,
And wavering motions sent he knows not whence,
Impediments that make his task more sweet;
Such pleasant office have we long pursued
Incumbent o’er the surface of past time
With like success …

Gerard Manley Hopkins: As Kingfishers Catch Fire

As kingfishers catch fire, dragonflies draw flame;
As tumbled over rim in roundy wells
Stones ring; like each tucked string tells, each hung bell’s
Bow swung finds tongue to fling out broad its name;
Each mortal thing does one thing and the same:
Deals out that being indoors each one dwells;
Selves — goes itself; myself it speaks and spells,
Crying Whát I dó is me: for that I came.
I say móre: the just man justices;
Keeps grace: thát keeps all his goings graces;
Acts in God’s eye what in God’s eye he is —
Chríst. For Christ plays in ten thousand places,
Lovely in limbs, and lovely in eyes not his
To the Father through the features of men’s faces.

Das folgende dänische Gedicht habe ich hier ins Deutsche übersetzt:

B. S. Ingemann: I sne står urt og busk i skjul

I sne står urt og busk i skjul,
det er så koldt derude,
dog synger der en lille fugl
på kvist ved frosne rude.

Giv tid! giv tid! – den nynner glad
og ryster de småvinger,
giv tid! og hver en kvist får blad,
giv tid! – hver blomst udspringer.

Giv tid! og livets træ bli’r grønt,
må frosten det end kue,
giv tid! og hvad du drømte skønt,
du skal i sandhed skue.

Giv tid! og åndens vinterblund
skal fly for herlig sommer,
giv tid! og bi på herrens stund,
– hans skønhedsrige kommer.

Gustaf Munch-Petersen: Det underste land

o stor lykke
stor lykke har de faaet,

som er født i det underste land –
overalt kan i se dem
vandrende
elskende
grædende –
overalt gaar de,
men i deres hænder bærer de smaa ting
fra det underste land –

o større end alle lande
herligere
er det underste –
opad vrider jorden sig
i en spids –
og nedad
udad synker det tunge
levende blod
ind i det underste land –

smalle forsigtige fødder
og tynde lemmer
og ren er luften
over de aabne opadstigende veje –
i lukkede aarer
brænder længselen hos dem,
der er født oppe under himlen –

men o
i skulde gaa til det underste land –!
o i skulde se folket fra det underste land,
hvor blodet flyder frit mellem alle –
mænd –
kvinder –
børn –
hvor glæden og fortvivlelsen og elskoven
tunge og fuldmodne
straaler i alle farver mod jorden –
o jorden er hemmelighedsfuld som en pande
i det underste land –

overalt kan i se dem
vandrende
elskende
grædende –
deres ansigter er lukkede,
og paa indersiden af deres sjæle sidder jord
fra det underste land –

Habt ihr ein Lieblingsgedicht (oder -lied), das euch zum Träumen bringt?

Liebe Grüße von der Insel, Carmen Wedeland

Englische Gedichte übersetzt: George Herbert, Love III

Heute ist Gründonnerstag. Aus diesem Anlass möchte ich wieder ein Gedicht vorstellen, das ich übersetzt habe: LOVE III.

Es stammt von George Herbert (1593 – 1633), einem englischen Theologen, der zu den berühmten metaphysical poets zählt.

Herberts Gedichte behandeln religiöse Themen auf sehr persönliche und oft rätselhafte Weise. Ich habe versucht, mich einem dieser Rätsel anzunähern.

Hier das Werk im Original:

LOVE III

LOVE bade me welcome: yet my soul drew back,
Guiltie of dust and sin.
But quick-ey’d Love, observing me grow slack
From my first entrance in,
Drew nearer to me, sweetly questioning
If I lack’d anything.

A guest, I answer’d, worthy to be here:
Love said, You shall be he.
I, the unkind, ungratefull? Ah, my deare,
I cannot look on thee.
Love took my hand and smiling did reply,
Who made the eyes but I?

Truth Lord; but I have marr’d them: let my shame
Go where it doth deserve.
And know you not, sayes Love, who bore the blame?
My deare, then I will serve.
You must sit down, sayes Love, and taste my meat.
So I did sit and eat.

George Herbert, aus: The Sacred Temple (1633)

Das ist meine Übersetzung:

LIEBE III

„Sei mir willkommen“, grüßte Liebe mich,
Der ich als Sünder kam.
Als hastig meine Seele von ihr wich,
Gequält von Schuld und Scham,
Da folgte Liebe voller Sorge mir:
„Sag, woran fehlt es dir?“

„Es fehlt ein Gast, der deiner würdig wär.“
Sie sprach: „Du darfst nicht gehn,
Sei du mein Gast.“ – „Ich bin zu böse, Herr,
Dich auch nur anzusehn.“
Doch Liebe lächelte: „Weißt du, mein Gast,
Durch wen du Augen hast?“

„Herr, ich verdarb, was ich von dir bekam.
Bestrafe mich gerecht.“
„Weißt du, wer starb und alles auf sich nahm?“
„Dann dien ich als dein Knecht.“
„Ich lade dich zum Hochzeitsmahle ein.“
So nahm ich Brot und Wein.

George Herbert.
Übersetzt von Carmen Wedeland, Karfreitag bis Ostermontag 1993.

Weitere Übertragungen, teils mit etwas anderer Interpretation, gibt es zum Beispiel hier beim Blog Theaterliebe.

Aus dem Dänischen habe ich folgende Gedichte/Liedtexte übersetzt:
Grundtvig, Skyerne gråner – Grau sind die Wolken. Passend zum Herbst, Luciafest und zu Weihnachten.
Ingemann, I sne står urt og busk i skjul – Der Schnee bedecket Busch und Baum. Passend zum Winter und zum Frühling.

Liebe Grüße von der Insel und gute Osterfeiertage euch allen, Carmen Wedeland

Dänische Lieder übersetzt: Grundtvig, Skyerne gråner – Grau sind die Wolken

Draußen ist es kalt, windig und grau. Wir sehnen uns nach Weihnachten und der Rückkehr des Lichtes. Am 13. December ist Luciafest. In vielen dänischen Kirchen finden in diesen Tagen Lucia-Gottesdienste statt, bei denen weiß gekleidete Mädchen mit Kerzen in die Kirche einziehen. Die Tradition kommt eigentlich aus Schweden und fiel früher auf den kürzesten Tag des Jahres, die Wintersonnenwende.

In manchen dänischen Kirchen singt man zu diesem Anlass das Lied „Skyerne gråner“ von Grundtvig. Das Lied hieß ursprünglich „Efterår“ („Herbst“), der Text eilt aber schnell auf den Winter zu,  streift den Frühling und macht überraschende Ausflüge in die nordische und christliche Mythologie.

Da ich keine deutsche Übersetzung finden konnte, habe ich die Herausforderung angenommen und selber eine verfasst – oder sagen wir besser: eine Nachdichtung versucht, denn alle Inhalte, Assoziationen, Stab- und Endreime lassen sich kaum gleichzeitig in das Versmaß pressen. Meine Fassung wurde 2015 im Deutsch-Dänischen Kirchengesangbuch abgedruckt, aber wenn ihr das nicht zur Hand habt, bekommt ihr sie zur Feier des Tages jetzt hier:

Grau sind die Wolken, das Laub fällt nieder

Grau sind die Wolken, das Laub fällt nieder,
fort ist der Vögel Gesang,
kalt droht der Winter, die Nacht kehrt wieder,
Blumen im Schnee klagen bang.
Doch wir tragen Fackeln voll Freude!

Schnell kommt der Winter, der Schnee fällt nieder,
Blumen vergehen im Grund.
Licht ging verloren, und Klagelieder
klirren aus frostigem Mund.
Doch wir tragen Fackeln voll Freude!

Leben regt neu sich zur Sonnenwende,
nun wird der Tag wieder lang.
Wachsendes Licht bringt des Winters Ende,
hoch fliegt der Lerche Gesang.
Und wir tragen Fackeln voll Freude!

Leben wird tief aus dem Tod geboren,
Lieder lobsingen der Zeit:
Vögel, die Federn im Herbst verloren,
fliegen im Frühling erneut.
Und wir tragen Fackeln voll Freude!

Leicht fliegen Vögel auf Windes Schwingen
hoch über tosendem Meer,
weit fliegen Lieder, die weise singen
von Tod und Wiederkehr.
Und wir tragen Fackeln voll Freude!

Laut schlagen Herzen, sie stolpern, beben,
folgten den Vögeln so gern,
dennoch, das Licht siegt, das finstre Streben
sinkt in der Erde Kern.
Und wir tragen Fackeln voll Freude!

Lieder erklingen und Glocken läuten,
Heilige Nacht wärmt den Sinn.
Winter wird bald auf den Frühling deuten,
Sonne schmilzt Sorgen dahin.
Und wir tragen Fackeln voll Freude!

Tief in der eisigen Nacht gebären
glaubende Herzen das Licht,
kosen den Frühling, den treu sie nähren,
der neues Leben verspricht.
Und wir tragen Fackeln voll Freude!

Ewiger Frühling, im Frost gekommen,
Bethlehem strahlt in der Nacht,
glaubende Herzen, ihr habts vernommen:
Christ hat das Leben gebracht!
Und wir tragen Fackeln voll Freude!

N. F. S. Grundtvig 1847.
Übersetzt von Carmen Wedeland 2015.
(Übersetzung veröffentlicht von meinem Alter Ego im Deutsch-Dänischen Kirchengesangbuch 2015)

Und hier kommt der Originaltext. Er stammt von Nikolai Frederik Severin Grundtvig (1783 – 1872), dem bedeutenden Theologen, Dichter, Politiker und Gründer der dänischen Heimvolkshochschul-Bewegung.

Vertont wurde das Gedicht von Thora Borch, die Melodie kann man z. B. hier auf der Webseite des dänischen Gesangbuches abspielen lassen und auf YouTube gibt es viele Aufnahmen des Stückes mit dänischen Chören und diversen Künstlern.

Wer eine andere deutsche Übersetzung kennt: Ich würde mich freuen, davon zu hören.

Skyerne gråner, og løvet falder
(Den Danske Salmebog nr. 733)

Skyerne gråner, og løvet falder,
fuglene synger ej mer,
vinteren truer, og natten kalder,
blomsterne sukker: det sner!
Og dog bære blus vi med glæde!

Vinteren kommer, og sneen falder,
blomsterne visner i muld,
isen optøs ej af gråd for Balder,
tårerne stivner af kuld.
Og dog bære blus vi med glæde!

Solhvervet kommer, og bladet vendes,
dagene længes på ny,
solskinnet vokser, og vintren endes,
lærkerne synger i sky.
Derfor bære blus vi med glæde!

Årene skifter af gru for ælde,
skjaldene giver dem ret,
fuglene alle hvert år må fælde,
ellers de fløj ej så let:
Derfor bære blus vi med glæde!

Fuglene flyver som vind på vinger
let over vildene hav,
skjaldene flyver, som rimet klinger,
glat over slægternes grav.
Derfor bære blus vi med glæde!

Hjerterne vakler, når højt de banke,
drages til fuglenes spor,
lyset dog sejrer, den mørke tanke
flygtende synker i jord.
Derfor bære blus vi med glæde!

Salmerne klinge og klokker kime,
spotter med sneen ved jul,
vinteren må sig med våren rime,
smelte for solen i skjul.
Derfor bære blus vi med glæde!

Troende hjerter i vinterløbet
føder den liflige vår,
trykker den til sig i barnesvøbet
med et lyksaligt nytår!
Derfor bære blus vi med glæde!

Betlehems-barnet i krybberummet
det er den evige vår,
troende hjerter det har fornummet:
Jul gør lyksaligt nytår!
Derfor bære blus vi med glæde!

N. F. S. Grundtvig 1847.

P. S. Im Februar habe ich die Übersetzung eines schönen Wintergedichts veröffentlicht: B. S. Ingemann, I sne står urt og busk i skjul – Der Schnee bedecket Busch und Baum.

Ein deutsch-dänisches Hygge-Lied

Auf hygge reimt tygge, aus gutem Grund:
Essen macht glücklich und gesund.
Tygge heißt kauen,
brygge heißt brauen,
wer hat nicht gerne was Leckres im Mund?
Ein Haus für die hygge,
hübsch anzuschauen,
das lasst uns bygge,
denn bygge heißt bauen.
Dazu hægge im Garten –
Traubenkirschbäume –,
ihr Duft füllt die Räume
und Vögelchen warten
darauf, von den Früchten
zu hugge, zu klauen.
Wenn sie sich trauen!
Wir schaukeln im Schatten
– den nennen wir skygge
in Hängematten
und träumen und dichten
und das ist hygge.

Carmen Wedeland, Møn 2017

Diese kleine Perle der Literatur habe ich letzte Woche produziert. Sie wird Teil des Buches „Handmade Hygge“, das am 11. September im frechverlag erscheint. Nach dem sprachlichen Exkurs geht es ans Eingemachte. Ich beantworte Fragen, die die Welt beschäftigen:

  • Wieso sind die Dänen so glücklich?
  • Weshalb ist Hygge die Geheimwaffe für Gestresste?
  • Warum solltest du heute noch einen Strickklub gründen?
  • Und: Was ist hyggeliger als Handarbeiten? (Auflösung ganz unten)

An den letzten Hygge-Texten häkele ich gerade fleißig herum, während Handarbeitsexpertinnen die Anleitungen schreiben. Wenn ihr wirklich gern wollt, könnt ihr das Buch aber jetzt schon vorbestellen, beim Verlag oder bei Amazon. Habe ich vor ein paar Tagen wohl auch schon erwähnt, da habe ich das Buchprojekt schon einmal angekündigt 🙂

Handmade Hygge: Strick-, Häkel- und Nähprojekte zum Wohlfühlen. Mit Schnittmusterbogen Von Carmen Wedeland, Barbara Sander, Manuela Seitter und Eva Scharnowski. Gebundene Ausgabe – erscheint am 11. September 2017.

Auflösung zur Frage: Was ist hyggeliger als Handarbeiten?
Handarbeiten, Essen und Reden gleichzeitig.

Dänische Lieder übersetzt: Ingemann, I sne står urt og busk i skjul – Der Schnee bedecket Busch und Baum

Kennt ihr dieses Gefühl: Ihr lest ein Gedicht und taucht sofort in eine andere Welt ein? Erkennt Stimmungen, spürt Dinge, die ihr selbst nicht schöner oder schmerzlicher in Worte fassen könntet? Manche werden jetzt den Kopf schütteln und wegklicken – Lyrik, wen interessiert das schon … Die meisten von uns hören allerdings gern Musik, und auch gute Lieder wirken noch besser durch ihre guten Texte – wenn wir sie denn verstehen.

lise-meijer-the-space-between-us-www-lisemeijer-dk

Lise Meijer, Der Raum zwischen uns (www.lisemeijer.dk)

Ich sammle Gedichte und Liedtexte, die mich faszinieren. Und manchmal übersetze ich sie auch, vom Dänischen oder Englischen ins Deutsche. Für mich ist das wie Sudoku, eine reizvolle Herausforderung.

Für die wenigen, die mein Interesse teilen, hier nun ein Klassiker des dänischen Liederschatzes, von mir frisch übersetzt. An der Grenze von Winter und Frühling passen die Verse gut zum heutigen Tag, auch wenn ich hoffe, dass es nun nicht noch einmal schneien wird … Liebe Grüße von der Insel!

Der Schnee bedecket Busch und Baum

Der Schnee bedecket Busch und Baum,
die Welt liegt starr in Schweigen.
Ein Vogel singt, du siehst ihn kaum
auf weiß beladnen Zweigen.

Geduld! Er singt in stillem Glück
und schüttelt sein Gefieder,
Geduld! Der Frühling kehrt zurück,
die Blumen blühen wieder.

Geduld! Bald wächst des Lebens Baum
aus grün gewordnen Erden,
Geduld! Bald soll dein schönster Traum
in Wahrheit sichtbar werden.

Geduld! Bald flieht des Geistes Nacht
und Sonne füllt den Garten.
Geduld! Schon bald kommt Gottes Pracht,
das Reich, das wir erwarten.

B. S. Ingemann 1831.
Übersetzt von Carmen Wedeland 2017.

Illustrationen auf dieser Seite mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin Lise Meijer. Das Originalgemälde „Der Raum zwischen uns“ hängt in meinem Schlafzimmer, weitere Malereien, Poster und Kunstkarten gibt es in ihrem Webshop: www.lisemeijer.dk

Und hier der dänische Originaltext. Der Autor, Bernhard Severin Ingemann (1789 – 1862), war ein dänischer Schriftsteller, der romantische Lyrik, historische Romane und religiöse Gedichte verfasste. Mehr über ihn steht z. B. im deutschen Wikipedia-Eintrag.

Das Gedicht wurde von J. P. E. Hartmann vertont (der bisher nur einen dänischen Wikipedia-Eintrag hat); wer die Melodie hören will, kann den dänischen Titel bei YouTube eingeben und sich eine Chor- oder Klavierversion aussuchen.

Wer eine andere deutsche Übersetzung kennt: Ich würde mich freuen, davon zu hören.

I sne står urt og busk i skjul

I sne står urt og busk i skjul,
det er så koldt derude,
dog synger der en lille fugl
på kvist ved frosne rude.

Giv tid! giv tid! – den nynner glad
og ryster de småvinger,
giv tid! og hver en kvist får blad,
giv tid! – hver blomst udspringer.

Giv tid! og livets træ bli’r grønt,
må frosten det end kue,
giv tid! og hvad du drømte skønt,
du skal i sandhed skue.

Giv tid! og åndens vinterblund
skal fly for herlig sommer,
giv tid! og bi på herrens stund,
– hans skønhedsrige kommer.

B. S. Ingemann 1831.

Update, 09.12.17:
Passend zu Herbst, Winter und Weihnachten habe ich hier die Übersetzung eines weiteren Klassikers: Grundtvig, Skyerne gråner – Grau sind die Wolken

Elfchen zur Weihnachtszeit

Weihnachten – Wintersonnenwende – jul: Eine Zeit, in der zauberhafte Dinge geschehen. In Dänemark bevölkern die „Nissen“, kleine Wichtel, das Haus. Und mein Blog wird von „Elfchen“ übernommen.

Ein Elfchen ist eine nette kleine Schreibübung: ein Gedicht, das aus elf Wörtern besteht. Das „klassische“ Elfchen verteilt diese elf Wörter so:

  • Zeile 1: ein Wort, das Thema deines Gedichts
  • Zeile 2: zwei Wörter, die das Thema beschreiben
  • Zeile 3: drei Wörter, die das Thema weiter vertiefen
  • Zeile 4: vier Wörter, die deine Gedanken dazu wiedergeben
  • Zeile 5: ein Wort als Fazit

Eine schöne Form für Stimmungsbilder! Hier ein paar Versuche von mir:

Møn Ulvshale und Nyord Winter 2015
wintermeer
glänzend grau
wellen unterm sonnenlicht
brücke in das ewige
staunen

 

Møn Bakkegaard Adventskranz 2015
Kerze
Zieht Licht
Aus dem Dunkel
Zauber der verborgenen Welt
Mysterium

 

Island Gletschersee JökulsarlonAls Souvenir aus Island:

gletscher
gleitet meerwärts
in sonne gelöst
in kälte gebunden das
mammut

 

AlpenwinterwolkenAngereichert mit Alliterationen:

wolken,
windes wanderer:
wabernde, wie wunschgespinste,
wehet weither wehmut, weiße
wunderländer

 

Keramik von Heidi Bruun PedersenVorwärts und rückwärts lesbar:

ei
erst, dann
huhn? so? oder
so: huhn, dann erst
ei?

 
Oder die festlich-befreite Form – mit der ich euch allen schöne Feiertage wünsche, wo und wie ihr sie auch begehen mögt:

dichte nacht
bedeckt das feld
bedrängend
beklemmend
herab sinkt die stille

wolf
umkreist die herde
am boden
zitternd
duckt sich das lamm

stille
harren
schweigend die schäfer
starr das lamm
abwartend der wolf

aufschießend, strahlend
erleuchtet, erhellt
den offenen himmel
freudvolle nacht
ein stern

lobt jubelt und singt
umrundet die welt
befreit und bewegt, löst angst und leid
verbindet und heilt, hoffnung macht
neues leben

schäfer
eilen zum licht
beschwingt
vom glauben getragen
verlassen die herden

lamm
befreit, allein
vertraut ohne zagen
himmel auf erden
dem gesang

mit ihm
lauscht dem lied
voll fried
paradieses klang
bruder wolf

Insel aus Zeit

Møn, aus dem Meer entstanden auf einem Fundament aus Fossilien. Milliarden von Kokkolith-Algen, die im Kreidemeer lebten und in Millionen Jahren zu Felsen wurden. Kreidefelsen, die mich zu Tausenden Fotos verlockten und die mich dazu brachten, mein altes Leben hinter mir zu lassen und auf die Insel zu ziehen … Meine Begeisterung für dieses Gestein habt ihr vielleicht schon mitbekommen.

 

Heute veröffentliche ich ein kleines Gedicht, das ich im September 2013 geschrieben habe. Es ziert inzwischen einen Schrank in meiner neuen Traumwelt – und könnte auch der Prolog meines Romans werden:

Am Grund der Zeit

Schwebendes Leben
Im Wasser, zum Licht
Ein Meer – Milliarden
Winzigster Wesen
Fließen und fallen
Sterben und sinken
Bilden den Boden
Der wachsenden Welt

Ein Meter – Millionen
Dunkelster Jahre
Schwerer und schwerer
Versunken, versteinert
Gewachsen, erhöht
Entstand das Land
Leben und Licht